Familie Purwins in Wilkieten
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Bilder und Geschichten der Familie Purwins aus Wilkieten
Familie Michel Purwins und Marinke Ramons aus Wilkieten
Sohn Paul Purwins erzählt
Mein Heimatdorf Wilkieten mit 26 Bauernhöfen gehörte zum Kirchspiel und Amtsbezirk Prökuls und liegt 30 km von Memel entfernt. Alle meine Vorfahren waren Bauern im Landkreis Memel, urkundlich nachweisbar bis 1754: Michel Purwins 1754-1824 in Stutten, Martin Purwins 1797-1843 in Stutten, sein Sohn Martin Purwins, 1826 in Stutten geboren, starb als Bauer 1895 in Schilleningken, wo auch mein Vater Michael Purwins geboren wurde. Wahrscheinlich hat auch das Dorf Labatag-Michel-Purwin zwischen Starrischken und Kairinn seinen Namen nach einem meiner Vorfahren erhalten.
Mein Vater heiratete 1891 die Bauerntochter Maria Ramons aus Lankuppen, und sie kauften in Wilkieten den Hof des "Grafen" Lippke. Er war kein Graf, wurde nur so genannt, weil er maßlos verschuldet und abgelumpt war und ausgewirtschaftet hatte. Gleich in den ersten Jahren mußte das Wohnhaus durchgebaut werden. Noch vor der Jahrhundertwende wurde ein neues Wirtschaftsgebäude mit Keller, Milchkammer, Getreidespeicher, Schweinestall und Schuppen für Brennholz- und Torfvorräte errichtet. Für 6000 Goldmark von der Landschaftsbank Königsberg wurde eine Wiese von 36 Morgen hinzugekauft. Ein Drittel zum Ackerland kultiviert, erbrachte gute Erträge an Hafer, Menggetreide und Rotklee. Der Hof hatte in zusammenhängenden Stücken rund 80 Morgen Ackerland und Weide und ein paar hundert Meter weiter eine Weide von 17 Morgen, dazu das Reststück mütterlichen Erbes: 15 Morgen Ackerweide in Lankuppen, 16 Morgen Tennewiese in Kogsten, Kr. Heydekrug, dazu die hinzugekauften 36 Morgen, also insgesamt 164 Morgen. Zwölf Jahre lang bewirtschafteten meine Eltern auch den Hof in Lankuppen, Mutters Erbe von etwa 60 - 70 Morgen. Da es Vater zu schwer und zu umständlich war, verkauften meine Eltern den Hof 1920 für 1 Million. Auf Anraten der Raiffeisenkasse hob Vater die Million ab und bekam im Frühjahr 1923 nur noch einen Mantel dafür, da ich in Memel zu Schule sollte. Einen Mantel für einen Bauernhof mit vier Gebäuden und Inventar!!!
Die Wilkieter Äcker brachten im Durchschnitt 18 - 21 Ztr. Roggen und Winterweizen und 17 - 19 Ztr. Sommergetreide pro Morgen und Anbaufläche. In Schwarzbrache, bei besonders günstigen Wetterbedingungen, konnte man auch 25 - 28 Ztr. ernten.
Das alte Wohnhaus, 19 m lang und 8 m breit, hatte eine große Stube für religiöse Versammlungen, 4 Wohnstuben, einen Flur, eine Veranda mit Wänden aus Fenstern, eine angebaute 2. Küche und auf dem Boden eine Stube für die Mägde. Die 1906 in Insterburg auf der Messe gekaufte Fertigscheune wurde in einer Woche aufgestellt, Dachpappe gedeckt, und wurde alle 6 Jahre neu geteert. Der massive Stall war 33 m x 11 m, nahm auf dem Boden fast das ganze Heu- und Kleefutter auf und im abgeteilten Raum die Getreideernte und bot genügend Platz für Landauer, Spazierwagen und Schlitten unter dem Getreidespeicher. Hinter der Brandmauer befanden sich Pferde, Kühe und Jungvieh, Schafe, Schweine und Geflügel. Das Wirtschaftsgebäude war 1933 abgebrannt und wurde nach altem Vorbild 18 x 8 m noch im selben Jahr neu erbaut.
Von den 5 Arbeitspferden waren fast immer 2 - 4 Trakehner Zuchtstuten, für deren Füllen, die auf Tier- und Füllenschauen mit Elchschaufel oder Doppelschaufel gebrannt wurden, bekam Vater immer hohe Geldprämien, Diplome, seltener auch Medaillen für Jährlinge, Enterfüllen und auch für die Dreijährigen, die bald als Remonte, oft an das Dragonerregiment in Tilsit verkauft, wenigstens einen Tausender erzielten.
Die Anzahl der Kühe nahm ständig zu und stieg von 6 um die Jahrhundertwende bis 1940 auf 14 Milchkühe mit einem Stalldurchschnitt von 3200 kg und 3,7% Fettgehalt, wie er durch die 14tägigen Kontrollen ermittelt wurde. Mit Färsen, Jungbullen und Kälbern waren immer um die 30 Stück Hornvieh zu versorgen, dazu noch der schwere, oft böse Deckbulle. 2 Artsauen, 4 Mastschweine, 6 - 8 Läufer, die anfallenden Ferkel zur Nachzucht und zum Verkauf auf dem Wochenmarkt in Prökuls brachten zusätzlich Geld in die Wirtschaft. Acht Schafe mit ihren Lämmern lieferten genügend Fleisch, Wolle und Felle für den Eigenbedarf. Strümpfe, Handschuhe, Schals und Strickjacken wurden an den langen Winterabenden gefertigt und sogar Stoffe für die Winterbekleidung zum Alltag gewebt. Die Felle wurden zu Pelzjacken, Pelzmänteln und Pelzdecken für den Spazierschlitten verarbeitet, und für besonders kalte Frostperioden waren auch Pelzhosen vorhanden.
Die Anzahl der Gänse schwankte von Jahr zu Jahr zwischen 18 und 32, die der Enten hielt sich um die 30, und an Hühnern waren es um die 40, da Eier im Haushalt gebraucht wurden und, auf dem Wochenmarkt schnell verkauft, neues Wirtschaftsgeld für die Küche brachten. Vier Bienenvölker versorgten uns mit Honig, und das Kleinzeug an Tauben und Kaninchen gehörte den Kindern der Familie.
Von den 6 Arbeitswagen konnten 4 zum Einfahren der Heu- und Getreideernten umgebaut werden. Ein besonders schwerer Wagen mit breiten Felgen war zum Transport von schweren Lasten und Langholz bestimmt und noch fast neu, da er nur selten gebraucht wurde. Ein Spazier-, Markt- und Milchwagen sowie ein Landauer, ein- und zweispännige Spazierschlitten und 4 Arbeitsschlitten waren auch vorhanden. An Ackergeräten war alles Nötige in ausreichender Menge vorhanden, ebenso auch an Maschinen wie Grasmäher, Pferderechen, Göpelwerk, Dreschkasten, Putzmühle, Häckselmaschine, Drillmaschine, Milchschleuder, Kartoffeldämpfer, Honigschleuder, Webstuhl und Spinnräder.
Der Garten, etwa 25 Ar groß, hatte bis zum ungewöhnlichen harten Winterfrost von 1928/29 im ganzen 72 Obstbäume und an den Seiten und Wegrändern Beerensträucher. Fast alle edleren Bäume wie "Herbstprinz", "Gravensteiner" und alle Rheinischen Kirschen erfroren diesen Winter und 1940/41 die anderen wertvollen Arten, obwohl die Nord- und Ostseite des Gartens durch dicht aneinander stehenden Tannen geschützt war. Im Spätherbst wurden Äpfel in Zentnersäcken mit dem größten Leiterwagen nach Memel gefahren und auf dem Markt verkauft, und die gepflückten Äpfel "Gelber Richard", "Blutapfel" und "Danziger Kant", in Kisten verpackt, an die Delikatessengeschäfte geliefert.
Vater nahm am öffentlichen Leben der Gemeinde teil und war für zwei Amtsperioden Gemeindevorsteher, etwa in den Jahren 1908 - 1920 und anschließend fast zwei Jahrzehnte lang Mitglied der Gemeindeverwaltung und Kirchenrat in Prökuls sowie Mitglied im Raiffeisen-Verband in landwirtschaftlichen Vereinen, im Schulvorstand und zuletzt in der Landwirtschaftspartei. Sein Hobby war und blieb die Pferdezucht, und er ließ es sich nicht nehmen, die Pferde selber einzufahren und zuzureiten, da er drei Jahre bei der Kavallerie gedient hatte. Noch mit 84 Jahren ritt er in die Felder, um nach dem Rechten zu sehen und die Jungtiere zu tränken und weiterzupflocken. Dazu benutzte er freilich nur noch den alten Milchwagengaul. Er führte ihn an die Milchkannenbank, bestieg mit Eimer und Holzschlägel das Pferd und ließ sich im Schritt zu jeder gewünschten Stelle tragen, auch in den Garten hinein, um leichter ab- und aufsteigen zu können. So hatte er bis zum Lebensabend auch Pferde zu Freunden und immer ein paar Stückchen Zucker in der Tasche für sie.
Den Hof erbte der jüngste Sohn Helmut. Da er bei Leningrad schwer verwundet wurde und nach der Genesung einen militärischen Dienst im Heimatdorf übertragen bekam, mußte Vater auch weiterhin hier und da nach dem Rechten sehen. Er war bis ins hohe Alter hinein immer als erster auf den Beinen, weckte die Mägde und die Kriegsgefangenen, wies sie in ihre Arbeit ein und beaufsichtigte besonders die Fütterung der Zuchttiere bis zur befohlenen Flucht im Oktober 1944. In Bergau, Kr. Samland, starb Vater, ohne krank gewesen zu sein, im 87. Lebensjahr am 30.12.44, und Mutter folgte ihm im Alter von 75 Jahren, nach weiteren Fluchtbeschwerden, am 19.03.45 in Röbel am Müritzsee. [1]
Ein Urenkel von Michel Purwins berichtet, was in der Familie über den Tod seines Urgroßvaters weitererzählt worden ist: "... als die Russen nach Wilkieten kamen, sind Marinke und Michel Purwins in die Nähe von Königsberg geflüchtet, nach Bergau. Sie nahmen einige Knechte und Mägde mit, die Tiere mussten sie zurücklassen. Eines Tages zog sich Michel festlich/feierlich an, setzte sich auf einen Stuhl, versammelte alle um sich und sagte: "Wenn ich in der Vergangenheit einmal zu streng oder hart zu euch war, möchte ich mich dafür entschuldigen, es tut mir leid, bitte verzeiht mir." Dann starb er aufrecht auf dem Stuhl sitzend."
Die Geschwister
Hochzeitsfest
Lisbeth Purwins-Irrittié
gibt in ihrem Roman "Der Kampf um die Heimaterde" einen Einblick in eine memelländische Bauernhochzeit:
... Einige Erntewagen, die vom Felde kommen, bleiben auf der Chaussee stehen, und die jungen Burschen und Mägde drehen sich die Hälse aus nach den rollenden Wagen. Einige hundert Meter vor dem Haus der Braut muß der ganze Zug halten. Quer über den Weg von einem Weidenbaum bis zum anderen ist eine Kette gezogen, mit frischem Grün beflochten und bunten Seidenschleifen geschmückt. Auf jeder Seite steht eine vermummte Gestalt in phantastischem Kostüm. Aus dem Brautwagen fliegen den beiden Wunderlichen Kuchenpakete zu, und jeder fängt eine Weinflasche auf. Die vorsorgliche Brautmutter hat zeitig daran gedacht. Über dem Hoftor ist ein riesiger grüner Bogen angebracht, in dessen Mitte eine Krone aus Rohr und bunten Blumen lustig hin- und herschaukelt. Die jungen Paare springen vergnügt aus ihren Wagen. In den großen, geräumigen Stuben stehen Holzbänke und lange Tische, überladen förmlich mit Speisen. Vom einfachsten Weißbrot an bis zu den feinsten Torten, alle Sorten von Wurst und kaltem Aufschnitt - ja sogar Lachs und Rauchaal sind nicht vergessen. Alles friedlich neben- und durcheinander und in fast unheimlichen Mengen. ... [2]
Fast die ganze Familie
Die Familienmitglieder von links nach rechts:
Stehend:
Hans Purwins, vor ihm seine Tochter Gisela, Georg Purwins mit seiner Tochter auf dem Arm, seine Ehefrau Gertrude Helene, geb. Dutz mit ihrem Sohn auf dem Arm, dahinter etwas verdeckt Helmut Purwins, Lisbeth Purwins-Irrittié, Paul Purwins mit seiner Nichte Brigitte auf dem Arm
Vorne sitzend:
Die Eltern und Großeltern Marinke, geb. Ramons und Michel Purwins
Es fehlen:
Willi Purwins, Anni Purwins und Magda Purwins
Von links nach rechts:
Die Erwachsenen:
Lieschen, Willi, Paul, Hans, Georg und Helmut Purwins
Die Kinder:
Günter, Irmtraud, Brigitte und Gisela Purwins
Familie Johann Purwins und Lisbeth Irrittié
Aglohnen
Das Pferd des Lehrers hieß Isaak
Erinnerungen an die Volksschule Aglohnen von Maria Meisel (Auszug aus MD 1956)
Vor dreißig Jahren, im Herbst 1925, wurde die neue einklassige Volksschule in Aglohnen eingeweiht. Das alte Schulgebäude war aus unbekannter Ursache abgebrannt. Bis zur Errichtung des neuen Schulhauses in Aglohnen wurde der Unterricht im ehemaligen Zollkontrollhaus in Paaschken abgehalten. Das Haus stand direkt an der Dorfgrenze Paaschken-Aglohnen, gegenüber der Haltestelle der Memeler Kleinbahn. In dieser Übergangszeit hatten die Schüler, insbesondere diejenigen, die von Kantweinen oder vom entgegengesetzten Ende Aglohnens kamen, einen recht weiten Schulweg. Auf einem schmalen Steg mußten sie die [[Aglohne Fluss|Aglohne] überqueren, die im Frühjahr bei Tauwetter recht böse werden konnte. Die kleinen Schüler, insbesondere die ABC-Schützen, gingen dann mit klopfenden Herzen über den Steig, das gurgelnde Wasser unter sich. Auch die Eltern waren in dieser Zeit in Sorge, daß ihren Kindern nichts passierte. Aber ein Schutzengel sah nach den Kindern, und kein Unglück kam vor. Natürlich hätten die Schulkinder auch einen anderen Weg nehmen können, aber der war eine Viertelstunde länger, und das ist bei den an sich schon langen Wegen, die unsere Landkinder zurückzulegen hatten, schon sehr viel. Nur im Sommer wurde der Umweg über Paaschken und die große Brücke gern gemacht – wenn im nahen Wäldchen die Walderdbeeren reif waren.
Als die neue Volksschule eingeweiht wurde, erschien aus Memel der Kreisschulrat. Der Schulvorstand von Aglohnen war vollzählig zur Stelle, und natürlich fehlten nicht die Eltern und schulentlassenen Geschwister der Schulgemeinde. Es war ein feierlicher Tag für alle, die aus Aglohnen, Kantweinen und Szidellen zusammengekommen waren, um ihr Schulhaus einzuweihen.
Lehrer Purwins[1], der aus Wilkieten stammte, hatte zwei Lieder mit den Kindern eingeübt: „Dies ist der Tag des Herrn“ und „Pilnos rankos atsiwerikte“, denn auch das Litauische war Vorschrift. Die Schüler trugen Gedichte vor, und schließlich wurde eine Aufnahme vom Lehrer und seinen Schulkindern gemacht. Das Bild zeigt das Schulhaus mit seiner Straßenfront. ...
Zum Schulgrundstück gehörte auch ein Wirtschaftsgebäude, in dem sich Scheune, Stall und Holzschauer unter einem Dach befanden. Dazu gehörten einige Morgen Land. Lehrer Purwins besaß ein Pferd, eine Kuh, Ferkel und Geflügel. Auf das Pferd, das er Isaak getauft hatte, war er besonders stolz. Natürlich war auch ein großer Hof da, der zugleich Spiel- und Sportplatz war, und selbstverständlich hatte der Lehrer auch einen schönen und großen Garten mit Obstbäumen, Erdbeeren und Blumen. Rundherum war eine Hecke gepflanzt. An einer ruhigen, schattig gelegenen Stelle stand eine Laube, in der die Lehrerfamilie an schönen Nachmittagen Kaffee trank. Lehrer Purwins war verheiratet; seine Frau war eine geborene Irritié, die später als Schriftstellerin und Heimatdichterin einen Namen bekam: Lisbeth Purwins-Irritié[2]. Als das neue deutsche Lesebuch erschien, waren von ihr zu unserem Stolz einige Gedichte und Geschichten drin. Über die Geschichte „Surinkimas“ hat sich die Bevölkerung damals besonders gefreut. Wir hatten bei ihr Handarbeit und waren sehr traurig, als die Familie unverhofft versetzt wurde. Ihre Tochter Gisela nahmen sie als bleibendes Andenken von Aglohnen mit. Dafür ließen sie uns als Abschiedsgeschenk auch manch kleines, schönes Andenken da. ...[3]
Dawillen
Halberstadt
Nachruf auf Lisbeth Purwins-Irrittié
Am 10. Juli (1974) starb in Hannover die bekannte memelländische Heimatdichterin Lisbeth Purwins-Irrittié kurz vor Vollendung ihres 77. Lebensjahres. Die gebürtige Memelerin stammte aus einer Hugenottenfamilie. Sie verbrachte ihre Jugend in Bommelsvitte, Schwarzort und Wilkieten. Ihr Vater war Lehrer, und ein Lehrer war es auch, den sie heiratete. Ihr Ehemann Johann Purwins war Präzentor in Aglohnen, von wo er allsonntäglich zum Orgeldienst nach Wannagen hinüberritt.
In dörflicher Abgeschiedenheit empfing Lisbeth Purwins aus der herben memelländischen Landschaft und deren Bewohnern die tiefen Eindrücke, die sie zur Dichterin reifen ließen. Allem geselligen Verkehr mit Pfarrer- und Lehrerfamilien, mit Bauern und anderen Nachbarn aufgeschlossen, machte sie ihr Schulhaus zu einem Hort der Musen. Hier wurde gesungen und musiziert, hier wurde vorgelesen und rezitiert. Schon bald nach dem ersten Weltkrieg suchte sie in unserer Zeitung ein größeres Forum für ihre Arbeiten. In lockerer Folge trat sie mit Gedichten und kleinen Erzählungen an die Öffentlichkeit, bereitwillig gefördert von den jeweiligen Redakteuren, die in ihr eine Gestaltungskraft erfühlten, die erheblich über den Durchschnitt dessen hinausging, was Provinzzeitungen an Heimatdichtung angeboten erhalten.
Bald nach der Besetzung des Memellandes durch die Litauer schrieb sie ihren großen Roman “Der Kampf um die Heimaterde”, die Geschichte eines memelländischen Großbauern, der seinen starken Willen seiner ganzen Familie aufzwingen will und schließlich erkennen muß, daß die Wege des Schicksals doch anders laufen, als er es wahrhaben wollte. Die politischen Ereignisse spielen in diesem Roman nur eine untergeordnete Rolle. Was ihn uns so wertvoll macht, sind die Einblicke in das memelländische Volkstum, in das Leben der Bauernfamilien, der Gebetsleute, in den Jahreskreis mit seinen Sorgen und Festen.
Dann wurde das Ehepaar Purwins selbst vom Volkstumskampf betroffen. Hans Purwins mußte mit seiner Frau und dem Töchterchen Gisela das Memelland verlassen. Am Rande des Harzes wartete auf die Familie ein anderes Schulhaus. Hier wurde auch die zweite Tochter Brigitte geboren, und hier verlor Frau Purwins ihren treuen, hochbegabten Ehegefährten viel zu früh. Sie verdiente sich zu ihrer bescheidenen Pension eine willkommene Aufbesserung durch ständige Mitarbeit an zwei Zeitungen des Harzer Raumes, für die sie Bücher, Theateraufführungen und kulturelle Veranstaltungen rezensierte.
Auch weiterhin verfaßte sie Gedichte und Erzählungen, die über große Korrespondenzen weit verbreitet wurden. Sie schrieb auch für Schulen und Jugendgruppen kleinere Theaterstücke, die viel Beifall fanden. Nach der Heimkehr des Memellandes ins Reich war sie wiederholt im Memelland zu Besuch. Dort hatte man sie keineswegs vergessen. Zahllose memelländische Schulkinder hatten ihr Gedicht “Heidefest” auswendig gelernt, das im Lesebuch für Volksschulen des Memelgebiets zu finden war.
Beide Töchter haben ein schönes Stück musischen Erbes aus dem Elternhaus auf den Lebensweg mitbekommen. Gisela war eine der ersten deutschen Fernsehansagerinnen am Saarbrücker Sender. Brigitte, jetzt mit Professor Dr. Hanns von Weyssenhoff verheiratet, wurde nach einem Musikstudium, das sie u. a. auch in die USA führte, zu einer namhaften Orgelinterpretin. Bis ins hohe Alter hinein gehörte Lisbeth Purwins mit ihrer Fürsorge ihren Töchtern und deren Familien.
Mit dem “Memeler Dampfboot” nahm sie auch nach der Vertreibung der Memelländer bald wieder Kontakt auf. In ihren zahlreichen Erzählungen, die sie im Laufe der letzten zehn Jahre in unserer Zeitung veröffentlichte, beschwor sie immer neu das Land ihrer Kindheit. Mit einem erstaunlichen Erinnerungsvermögen konnte sie rührende Einzelheiten ihrer Jugendtage in Memel und besonders in Bommelsvitte, ihrer Ferienerlebnisse in Schwarzort und ihrer Begegnungen mit lieben Memelländern noch nach Jahrzenten farbenfroh dem Vergessen entreißen. In ihren Erzählungen wurde nun die Heimat zur heilen Welt, auf die sich unsere Sehnsucht richtet.
In übergroßer Bescheidenheit entzog sie sich der Öffentlichkeit. Sie trat fast ganz hinter ihrem Buch und ihren Gedichten und Geschichten zurück. Nie drängte sie sich in den Vordergrund. Sie gehörte keinem Schriftsteller- oder Künstlerverband an, und in den bekannten Ostpreußen-Anthologien suchte man sie vergebens. Sie schaute lieber wissend und kritisch, dabei nie ohne Menschenliebe, auf die turbulente Bühne unserer Torheiten, statt sich dort selbst zu produzieren. So drückte sie das einmal in Versen aus:
- Die Welt, sie ist ein Schauspielhaus,
- Da stürmen die Spieler ein und aus.
- Da geht es in drängendem, eiligen Lauf
- die Stufen zur Bühne hinauf, hinauf.
- Und teilt sich der Vorhang – und es geht los,
- wie ist doch die Maskerade so groß!
- Sie lachen und flüstern sich ins Ohr
- und spielen einander Theater vor.
- Die Kunst der Mimik verstehen sie gut.
- Sie spielen mit Eifer, sie spielen mit Glut.
- Und jeder dreht sich in wiegenden Tänzen;
- denn jeder will auf der Bühne glänzen.
- Nur wenige sind es, die unten steh'n
- und sich des Lebens Schauspiel beseh'n.
Am 15. Juli wurde Lisbeth Purwins auf dem Laher Stadtfriedhof zur letzten Ruhe gebettet. In der memelländischen Literaturgeschichte hat sie für immer einen festen Platz! (Heinrich A. Kurschat) [5]
Tochter Brigitte schreibt uns über ihre Mutter:
… Wir Kinder sind ihr unsagbar dankbar für die schöne Kindheit, die wir in der damals uns als heil erscheinenden Welt hatten. Und später, im Chaos des Krieges und der Nachkriegszeit (1945 ausgebombt, bald darauf den Vater verloren, über die Grenze gegangen, wirkliche Not), da konnte sie uns – so sanft, zart, fast schwach wirkend – unmerklich den wesentlichen Halt geben durch ihr so festes, nahezu kindliches Gottvertrauen. Dann konnte sie, hinein in die schlimmsten Situationen, ganz ruhig und wie selbstverständlich sagen, daß sie sich keine Sorgen mache, denn "der liebe Gott wird uns schon helfen!" Wie oft zitierte sie aus der Bergpredigt: "Sehet die Vögel unter dem Himmel an: Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen, und euer himmlische Vater nährt (und beschützt) sie doch!" Das "beschützt" fügte sie von sich aus hinzu, und es bewahrheitete sich immer wieder.[6]
Über den Tod seines Großvaters Johann Purwins berichtet sein Enkel:
Johann Purwins musste (1946) erst in der amerikanischen Verwaltung vorsprechen, kam von dort nach Hause zurück, später auch in der britischen, schließlich in der russischen. Von da kam er nicht mehr zurück, er wurde verhört und anschließend in Gefangenschaft genommen. Dort erkrankte er und hätte lediglich einen sehr kleinen medizinischen Eingriff gebraucht, den er aber nicht bekam. An seiner unbehandelten Erkrankung starb er.