Schule in Saugen
Auf der Volksschule in Saugen
Auszug aus den Lebenserinnerungen von Alfred Neubacher mit freundlicher Genehmigung des Autors
Am 1. September 1935 begann für mich mit der Einschulung in die Volksschule in Saugen ein neuer Lebensabschnitt. Es war ein herrlicher Spätsommertag, als mich mein Vater zu meinem ersten Schultag in die damals noch zweiklassige Volksschule begleitete. Die meisten Kinder waren mir fremd, denn einen Kindergarten gab es damals in Saugen noch nicht, und so lernte ich die meisten Mitschüler/innen erst in der Schule kennen. Ich kam in die zweite Klasse, in der das erste bis vierte Schuljahr unterrichtet wurde. Uns Schulanfängern wies man die Plätze in den ersten Bankreihen an, aus Sicht des Lehrers die Mädchen links, die Jungen rechts vom Mittelgang. Mein Platz war ganz rechts in der ersten Bankreihe direkt am Fenster. Klassenlehrer war ein Herr Lenkies. Seine erste Amtshandlung war, für uns I-Männchen an der großen Tafel ein Häuschen aufzumalen und uns die Aufgabe dieses merkwürdigen Gebäudes zu erklären. Es hatte nur wenige kleine Fenster, die hoch unter dem Dach eingebaut waren, sodass es drinnen ziemlich dunkel zu sein schien und keinen Blick nach draußen zuließ. Das ist die "Kalus" (Kerker) für unartige Kinder, sagte der Lehrer. Wer im Unterricht nicht aufpasst oder Dummheiten macht, der kommt in die Kalus. Für mich als ABC-Schütze war es ziemlich furchtbar, eine solche Strafandrohung zu hören. Mit dieser sehr grausamen Methode versuchte dieser "Pädagoge", seine Kinder zu erziehen.
Lehrer der 1. Klasse und Schulleiter war ein Herr Petereit. Einige Wochen später übernahm die junge Lehrerin Betty Daszenies diese Klasse. Sie hatte ihr 1. Staatsexamen gerade erfolgreich abgeschlossen und hatte sich nun mit ihrer ersten eigenen Klasse auf das 2. Staatsexamen vorzubereiten. Sie war recht streng, aber gerecht.
In meiner Schulzeit durften die Lehrer die Schüler noch mit Stockschlägen bestrafen. Auch meine Lehrerin schreckte davor nicht zurück. Meist waren es Ungehorsamkeiten, die mit einer solchen Strafe belegt wurden. Je nach dem Vergehen erhielt man einen oder mehrere Hiebe auf die Finger der ausgestreckten Hand. Oft wurde dabei auch der Versuch gemacht, die Finger wegzuziehen, doch meist führte das dann eher zu einer Strafverschärfung. Bei den Jungen konnten es aber auch Schläge auf den Allerwertesten geben. Dazu musste man sich über die Schulbank beugen, sich die Hosenbeine stramm ziehen lassen und einige kräftige Schläge mit einem Rohrstock ertragen. Ganz Gerissene hatten manchmal sogar vorgesorgt und ihre Hosen ausgepolstert. Auch ich habe diesen Strafvollzug ein paar Mal zu spüren bekommen. In der Wissensvermittlung gab sich meine Lehrerin sehr viel Mühe, denn sie wollte ihren Schülern viel fürs Leben mitgeben. Der Unterricht mit vier Jahrgängen in einer Klasse ist natürlich für einen Lehrer sehr anstrengend. Allerdings gab es für die guten Schüler in den unteren Jahrgängen auch einen positiven Effekt, da sie bereits von den älteren Jahrgängen profitierten. Bis zum vierten Schuljahr hatte ich wirklich einen guten Unterricht.
Ich denke, dass meine schulischen Leistungen recht ordentlich waren und meine Eltern mit mir zufrieden sein konnten. Eine Ausnahme bildete lediglich die Fremdsprache "Litauisch", die wir zur memelländischen Zeit ab dem 3. Jahr zu lernen hatten. Das hatte weniger mit dem nicht "Können", sondern vielmehr mit dem nicht "Wollen" zu tun. Da das Verhältnis zwischen den Deutschen und Litauern im Memelland sehr angespannt war, habe ich aus Protest in meinen Diktaten absichtlich viele Fehler gemacht. Schon sechs Jahre später, als ich in Litauen zum Bau von Schützengräben im Einsatz war, stellte ich fest, wie wertvoll eine Fremdsprache ist, auch wenn mir die Politik der Litauer nicht gefiel.
Die Winter im Memelland waren lang, kalt und schneereich. Frost bis 30° und darüber gab es fast jedes Jahr. Im Jahr 1941 sank das Thermometer in einer Nacht sogar auf 41°. Bei diesen Wetterbedingungen war es Kindern, die einen weiten Schulweg hatten, nicht zuzumuten, die Schule zu besuchen. Dann erschienen meist nur die Kinder, die in unmittelbarer Nähe der Schule wohnten oder deren Eltern ein Pferd und Schlitten besaßen, mit dem sie ihre Kinder in die Schule bringen konnten. Da ich keinen weiten Schulweg hatte, konnte ich auch an diesen Tagen die Schule besuchen. Ein normaler Unterricht war unter diesen Umständen natürlich nicht möglich. Die wenigen Kinder, die gekommen waren, rückten dann möglichst nah an den Kachelofen heran, und unsere Lehrerin beschäftigte uns mit Lesen, Spielen oder erzählte uns schöne Geschichten. Meist endete so ein Schultag auch schon nach zwei oder drei Unterrichtsstunden. An solchen Tagen bin ich ganz besonders gerne in die Schule gegangen.
Nach dem 4. Schuljahr war es möglich, zum Gymnasium zu wechseln. Aufgrund meiner schulischen Leistungen hätte einem solchen Wechsel auch nichts im Wege gestanden. Da aber damals ein Gymnasium nicht kostenlos war und meine Eltern die finanziellen Mittel zum Besuch einer höheren Schule nicht aufbringen konnten, blieb mir nichts anderes übrig, als in der Volksschule zu bleiben. Im Frühjahr 1939 kam ich in die 1. Klasse zu Herrn Lehrer Albert Koeckstadt. 1936 oder 1937 war er von der Schule in Wirkieten nach Saugen versetzt worden und hatte die Schulleitung übernommen. Er hatte neben seinem Beruf als Lehrer auch die Geschäfte des Amtsvorstehers (ein Amt war der verwaltungsmäßige Zusammenschluss mehrerer Gemeinden) und die des Ortsgruppenleiters (politische Parteiführung) zu führen. Durch diese Überlastung litt natürlich der Unterricht. Oft ließ er zum Beispiel von einer Schülerin aus dem 8. Schuljahr Geschichtstexte an die Tafel schreiben, die wir abzuschreiben und für den nächsten Tag zu lernen hatten. Besonders im Fach Deutsch blieben große Lücken in der Grammatik und der Zeichensetzung.
Einmal im Jahr, meist vor den Sommerferien, gab es einen Wandertag. Das Ziel war, soweit ich mich erinnern kann, immer dasselbe. Es ging in den Jonischker Wald. Dort gab es in zwei bis drei Kilometern Entfernung einen Schießstand, der auch etwas Platz zum Spielen bot. Die Jungen spielten gewöhnlich Räuber und Ritter. Es war schon verwunderlich, dass sich dabei niemand im Wald verirrt hat. Ansonsten vertrieb man sich die Zeit mit Spielen wie Sackhüpfen, Eierlaufen usw... Diese Spiele wurden zum Teil als sportliche Wettkämpfe ausgetragen.
Im Sommer 1939 ging es mit mehreren geschmückten Pferdewagen bei schönem Wetter nach Kinten an das Kurische Haff. Für den Ausflug wurden mehrere Leiterwagen mit zusätzlichen Sitzbrettern und einer Regenplane versehen. (Leiterwagen hatten leiterähnliche Seitenwände und waren vor allem zum Einholen von Heu und Getreidegarben geeignet.) Die Fahrt dorthin dauerte etwa zwei Stunden. Kinten war ein Kirchdorf mit mehreren Geschäften. Da das Memelland im Frühjahr dieses Jahres zum Deutschen Reich heimgekehrt war, gab es auch wieder Südfrüchte zu günstigeren Preisen. Ich hatte noch nie eine Banane gegessen, aber vom Erzählen meiner Eltern gehört, dass die Banane eine gut schmeckende Frucht sei. In Kinten kam ich an einem Obststand vorbei. Dabei versuchte ich zum ersten Mal in meinem Leben, eine Banane zu kosten. Von meinem spärlichen Taschengeld kaufte ich mir eine solche Frucht, in der Hoffnung, dass sie auch meinem Geschmack entsprechen möge. Aber weit gefehlt, ich hatte mir die Banane viel süßer vorgestellt.
Das eigentliche Ziel des Ausflugs war der Strand des Kurischen Haffs. An einer kleinen Badebucht ließen wir uns nieder. Auf der anderen Haffseite konnte ich gut sichtbar die Kurische Nehrung erkennen. Es war für mich ein herrlicher Anblick, ein so weites Wasser und eine so schöne Landschaft zum ersten Mal zu sehen. Eine Kahnfahrt dagegen habe ich mit einiger Skepsis überstanden, weil mir die Schaukelei ein bisschen unheimlich vorkam.
1940 führte mich ein Schulausflug nach Tilsit, Ragnit und Obereißeln. Die beiden Städte (Tilsit 41.000 Einwohner, Ragnit 10.000 Einwohner) und der Ausflugsort Obereißeln liegen direkt an der westlichen Seite des Memelstroms. Tilsit war die erste größere Stadt, die ich kennengelernt habe. Ein schöner großer Park und die Königin-Luise-Brücke sind mir bis heute in Erinnerung geblieben. Dort versuchte 1807 Königin Luise von Preußen vergeblich, mildernde Friedensbedingungen von Napoleon zu erreichen. In Ragnit besuchten wir eine alte Burg, die vom Deutschen Ritterorden errichtet worden war. Endziel der Reise war Obereißeln, ein schöner Ausflugsort, auf einer Anhöhe gelegen. Vom Ufer des Stromes führte eine breite Treppe hinauf zu einem Ausflugslokal, von dem man auf den Memelstrom und weit in das östlich gelegene Memelland blicken konnte. Am 31. März 1943 wurde ich aus der Volksschule entlassen.