Westfalen/Kulturtechnik
Zur Zeit der Willkommschatzung im Jahr 1498 konnte im Fürstbistum Münster nur eine Minderheit der Menschen lesen und schreiben. Die Kulturtechniken wurden nicht systematisch umgesetzt, die Mehrheit stellten die Analphabeten. Um 1813 konnte die Hälfte der Erwachsenen beispielsweise innerhalb der Stadtmauern lesen und schreiben. Einige dieser Einwohner waren in der Lage, Texte mit bekannten Begriffen zu entziffern, laut vorzulesen und auch, wie in der Schule bei den 10 Geboten geübt, auswendig zu lernen, auch wenn sie den Inhalt nicht unbedingt verstanden. Bekanntmachungen wurden in Kirchen von der Kanzel verkündet, Veträge von Notaren vorgelesen, die Amtssprache mußte erläutert weden.
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Signierfähigkeit, eine Kulturtechnik
Signierfähigkeit beinhaltet eine der drei traditionellen Kulturtechniken. Bei dem Begriff der drei Kulturtechniken handelt es sich im engeren Sinne, in der Zeitspanne der breitgefächert möglichen Heimat- und Familienforschung, um eine Sammelbezeichnung für Lesen, Schreiben und elementares Rechnen.
Verbreitung in der Landbevölkerung
Bei der Frage, wie weit diese vorbeschriebenen Kulturtechniken (Lesen, Schreiben, Rechnen) in der Landbevölkerung vor Beginn des 20. Jahrhunderts verbreitet waren, ist lokal ein erhebliches Gefälle vor Beginn des 19. Jahrhunderts zwischen Stadt und Landbevölkerung festzustellen. Wissen über den jeweiligen Kenntnisstand bei Vorfahren sind bei der Anlage von Biografien interessante Aspekte.
Erbpachtverträge zwischen Eigenbehörigen und ihrer Grundherrschaft erfolgten in der Zeitschiene vor 1803 vor einem Notar und wurden nach folgender Formel dokumentiert: 1.verlesen, 2.überprüft, 3.bekräftigt durch Anlobung oder Handschlag (Stipulatio), welches dann allein der Notar mit seiner Unterschrift und dem Kürzel "cons. mdtrius. mp" bestätigte.
Erst mit Einführung der Zivilstandsregister, im früheren Geltungsbereich des Fürstbistums Münster etwa ab 1808, mußten die Eintragungen von den Beteiligten signiert werden. Hier können erste systematische Untersuchungen zu den lokalen Erfolgen der Alphabetisierung ansetzen.
- Auswertungsbeispiel in: Stratmann, Bodo: Die Lebensverhältnisse in der Stadt Haltern in der Übergangszeit von 1769 bis 1816 (2014)
Dienstherrschaften sollten Schreiben können müssen
Noch am 11.08.1820 wird in einer Polizeiverordnung in Westfalen darauf hingewiesen, daß nach der Gesindeordnung vom 08.11.1810 § 171 Dienstherrschaften verpflichtet sind, abziehenden Gesinde einen schriftlichen Abschied und ein Zeugnis zu erstellen.
- Wenn die Herrschaft nicht schreiben konnte, sollte der Ortsschullehrer an deren Stelle den Entlassungsschein ausfüllen, nach Verlesung und Genehmigung von denselben unterkreuzen lassen, durch Handzeichen, mit Beschreibung des Vorgangs, Ort und Datum beglaubigen, und dafür einen Guten Groschen als Gegenleistung erhalten.
Quellenlage
Während es in erhaltenen kirchlichen, städtischen und anderen unterschiedlichen Archiven durchaus möglich ist, sich lokale statistisch verwertbaren Angaben bei den Ständen und Bürgern zu verschaffen, ist bei der Landbevölkerung erheblich schwieriger.
Auswertungsmöglichkeiten
- Zumindest seit dem 17. Jahrhundert sind unregelmäßige listenmäßige lokale Befragungen von (kirchlichen) Landesherren (Fürstbistümer) bekannt, welche den Stand der Verbreitung der Sakramente (Riten) und des Lesens und Schreibens in der Fläche des Landes erfragen.
- Bei lokalen oder regionalen Visitationen im kirchlichen Bereich, fand neben dem kirchlichen "Controling" auch eine Befragung über den Stand im Lesen und Schreiben bei den Küstern, Schulmeistern und der Allgemeinheit statt.
- Im Bereich der Stadtmauern gibt es lokal unterschiedliche Schülerlisten, welche bei gymnasialen Klosterschulen teilweise bis in das auslaufende Mittelalter zurückreichen.
Quellen des 19. Jahrhunderts
- Im Geltungsbereich des napoleonischen "Cod Civil" worden ab 1808 bis etwa 1813 Zivilstandsregister mit Nebenregistern getrennt nach Geburt, Kopulation und Tod geführt. Im Rahmen der Dokumentation hatten die Registerführer und mindestens zwei Nachbarn der einzutragenden Person das Protokoll mit eigener Hand zu unterzeichnen. In diesem Rahmen wurde auch die Unkenntnis des Schreibens (Signierunfähigkeit) des betroffenen Zeugen im Protokoll dokumentiert.
- Dies sah dann z.B. bei Averbrock in Haltern am See folgendermaßen aus: 08.05.1809 Bernhard Henrich Goesen gt. Brock, des Schreibens unerfahren, Nachbarn: Bernhard Schulte Lünsum, 40 Jahre alt, des Schreibens unerfahren, Zeller Herman Farwick alle in Lünsum (In Haltern wurden erste Faksimiles von Unterschriften eingearbeitet in der Veröffentlichung: Die Lebensverhältnisse in der Stadt Haltern in der Übergangszeit von 1769 bis 1816 (2014)).
- Da im westfälischen Preußen nach 1816 die Zahlung von Schulgeld eingeführt wurde, sind in jährlich aufzustellenden Listen die einzelnen Schüler erfaßt, jeweils mit dem Vermerk, ob gezahlt wurde oder einzelne Kinder wegen Armut von der Zahlung befreit waren. Im Vergleich mit den Bevölkerungslisten lassen sich so die Kinder ermitteln, welche keine Schule besuchten.
Bibliografie
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- Busch-Geertsema, Bettina: "Elender als auf dem elndsten Dorf"? Elementarbildung und Alphabetisierung in Bremen am Beginn des 19. Jahrhunderts, in: Hans Erich Bödeker;. Ernst Hinrichs (Hg.): Alphabetisierung und Literarisierung in Deutschland in der Frühen Neuzeit, Tübingen 1999.
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- Prass, Reiner : Alphabetisierung in Frankreich und Deutschland. Überlegungen zu differierenden Grundlagen scheinbar gleicher Entwicklungen, in: Hans Erich Bödeker, Martin Gierl (Hg.), Aufklärung und Lebenswelten. Aufklärung in komparativer Perspektive, Göttingen 2003.
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- Preußisch-gewerblicher Vorsprung und katholisch-ländliche Rückständigkeit? Zur Alphabetisierung in Minden-Ravensberg und Corvey-Paderborn, in: Hans Erich Bödeker; Ernst Hinrichs (Hg.): Alphabetisierung und Literalisierung in Deutschland in der Frühen Neuzeit, Tübingen 1999, S. 69-93.
- Schriftlichkeit auf dem Land zwischen Stillstand und Dynamik. Strukturelle, konjukturelle und familiäre Faktoren der Alphabetisierung in Ostwestfalen am Ende des Ancien Régime, in: Werner Rösener (Hg.): Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft vom Mittelalter bis zur Moderne (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts fuer Geschichte, Bd. 156), Göttingen 1999, S. 319-343.
- Das Kreuz mit den Unterschriften. Von der Alphabetisierung zur Schriftkultur, in: Historische Anthropologie 9/3 (2001), S. 384-404.
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- Unterschriften aus der Altmark. Zur Alphabetisierung in Stendal und Umgebung um 1800, in: Ralf Pröve, Bernd Kölling (Hg.): Leben und Arbeiten auf märkischem Sand. Wege in die Gesellschaftsgeschichte Brandenburgs 1700-1914, Bielefeld 1999, S. 90-119.
- Alphabetisierung in Althessen. Zum Stand der Signierfähigkeit in Hessen-Kassel um 1800, in: Hans Erich Bödeker; Ernst Hinrichs (Hg.): Alphabetisierung und Literalisierung in Deutschland in der Frühen Neuzeit, Tübingen 1999.
- Alphabetisierung in Brandenburg-Preußen 1600-1850. Zu den Grundlagen von Kommunikation und Rezeption, in: Ralf Pröve, Norbert Winnige (Hg.): Wissen ist Macht. Herrschaft und Kommunikation in Brandenburg-Preußen 1600-1850 (Schriftenreihe des Forschungsinstituts für die Geschichte Preußens e.V., Band 2), Berlin 2001.