Erziehung im XX. Jahrhundert/039

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Erziehung im XX. Jahrhundert
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Aber wie die Verhältnisse praktisch liegen, müssen sich viele mit der Erziehung befassen, die nicht als Erziehungskünstler geboren sind und denen auch nur eine mangelhatte Vorbereitung für den Erzieherberuf zuteil geworden ist. Die heutige Vorbildung unserer Lehrer an allen Arten von Schulen, so vorzüglich sie auch in gewisser Hinsicht sein mag, ist doch mehr auf den Lehrberuf, als auf den Erzieherberuf zugeschnitten. Es hängt das aufs engste zusammen mit dem ganzen Charakter, den unsere heutige Schule hat; sie ist :m eigentlichen Sinne eine Unterrichtsanstalt, in der das Erziehen erst in zweiter Linie in Frage kommt. Jede Schule arbeitet nach einem festen Lehrprogramme, gewisse Lehraufgaben und Leh#ziele sind ihr von der untersten Klasse an vorgeschrieben, und um diese zu erreichen, muss die gesamte Tätigkeit der Schule nach einer Richtung hin konzentriert werden. Je mehr im Laufe der Jahrhunderte der Begriff »allgemeine Bildung« sich erweitert hat, seitdem wir von der Schule als einer Einrichtung reden können, die die notwendige allgemeine Bildung vermittelt, um so höher sind auch

Bild: Probe von englischer Steilschrift eines neunjährigen Kindes.

die Anforderungen geworden, die man an die Schule stellt. Die Einfühlung der allgemeinen Volksschule in Deutschland ist eine Folge der Reformation gewesen; vor dieser Zeit und namentlich vor Erfindung der Buchdruckerkunst war der Bildungsbegriff ein wesentlich anderer. Wolfram von Eschenbach war gewiss ein für seine Zeit hochgebildeter Mann, trotzdem er weder lesen noch schreiben konnte und nach seinem eigenen Ausspruche keinen Buchstaben kannte. Wir können uns das heute kaum noch vorstellen, dass jemand gebildet sein soll, ohne die Kenntnisse und Fertigkeiten zu besitzen die wir vom siebenjährigen Volksschüler verlangen. Karl Stieler, der bayrische Hochlanddichter, hat diese Umwälzung der Anschauungen in einem seiner schönsten Gedichte poetisch dargestellt. In •der »Vision« trifft der Dichter zur Mitternachtsstunde am Uier des Tegernsees mit einer Gestalt der Vorzeit, dem Abte Werner von Tegernsee, zusammen. »Bist du ein Klosterschüler? Bist du des Lesens kundig?« frug der ehrwürdige Mönch den Poeten, der ihm verblüfft erwidert: »Das lernt' ich wohl in meinen Kindertagen, denn mit sechs Jahren hebt die Schulpflicht an. Der ärmste Bauer hat doch heut sein Buch«. Der Mönch erstaunte, »dann seufzt er leis' und fuhr sich an die Stirn: Ein Kind besiegt die Weisheit meiner Zeit!« —