Erwerbs- und Wirtschaftsleben

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Karte des Memellandes, seiner Kreise und Kirchspiele während der Abtrennungszeit 1920-1939

Name

Durch den Frieden von Versailles vom 28. Juli 1919 wurden verschiedene Gebiete vom Deutschen Reiche abgetrennt; zu diesen gehörte auch das Land nördlich der Memel; es heißt jetzt Memelgebiet. Man nennt es wohl auch das Memelland oder den Memelgau.

Landwirtschaft

Infolge der Bodenbeschaffenheit und seiner äußerst günstigen Lage nach wird das Wirtschaftsleben des Memelgebietes in der Hauptsache durch Land- und Forstwirtschaft, Fischerei und Handel beherrscht.

Die heimische Bevölkerungtreibt hier vorwiegend Ackerbau. Der größte Teil des Bodens befindet sich in den Händen kleinerer und mittlerer Besitzer. Daneben gibt es - besonders in den Kreisen Memel und Pogegen - mustergültig bewirtschaftete Güter. Ueberhaupt steht die Landwirtschaft des Memelgebietes in seltener Blüte. Die Landwirte verstehen es hier, den Grund und Boden gründlich auszunutzen und seine Erzeugnisse sachgemäß zu verwerten. Der Boden ist meistens drainiert oder mit sonstigen Entwässerungsanlagen versehen. Auch in den kleinsten Besitzungen findet man die besten Ackergeräte und Maschinen, und überall werden künstliche Düngemittel angewandt: Superphosphat, Knochenmehl, Kainit und Thomasmehl. Das alles sind Erzeugnisse, die aus dem alten Mutterlande bezogen werden müssen.

Zur Aussaat werden die edelsten Getreidesorten benutzt (Petkuser). Angebaut werden vor allen Dingen Roggen, Gerste und Hafer, und in den Moorgegenden sehr viel Kartoffeln. Die vielen Wiesen des Memelgebietes kommen der Vieh- und Pferdezucht sehr zustatten und ermöglichen die Haltung eines verhältnismäßig zahlreichen Viehbestandes. Auch hier ist man bei der Zucht auf Veredelung der Rassen bedacht. Ganz besonders leistungsfähig ist die Schweinezucht im Memelgebiete; sie ruht hauptsächlich in den Händen der kleineren Besitzer. Die meisten Schweine werden im Kreise Heydekrug gezüchtet. In den letzten Jahren hat infolge der Teuerung die Schaf- und Gänsezucht wieder ganz bedeutend zugenommen. Kleintierzuchtvereine sorgen für die Förderung der Zieg-, Geflügelzucht usw. und Bienenzuchtvereine für eine weitere Ausbreitung der Imkerei. Kurz, alle Zweige der Landwirtschaft des Memelgebietes sind auf der Höhe und machen unser Memelland zu einem Ueberschußgebiet. Ausgeführt werden vornehmlich Vieh, Schweine, Gänse, Pferde, Kartoffeln, Butter und Käse.

Die meisten Landwirte des Memelgebietes sind zu Verbänden, Genossenschaften und Kredit- und Raiffeisenvereinen zusammengeschlossen. So können sie ihre Interessen besser vertreten und auch die landwirtschaftlichen Bedarfsartikel billiger und leichter beziehen. In der Landwirtschaftskammer hat sich die gesamte Landwirtschaft selbst eine behördliche Vertretung geschaffen. Man ist auch auf die Weiterbildung der Landwirte und auf die Heranziehung eines tüchtigen Nachwuchses bedacht. Die Landwirtschaftskammer unterhält eine landwirtschaftliche Winterschule und ist bestrebt, wo es nur angängig erscheint, überall auf dem Lande die Einrichtung ländlicher Berufsschulen zu fördern.

Bauernregeln

  • Das Wetter erkennt man am Wind, den Vater am Kind, den Herrn am Gesind.
  • Maulwurfshaufen im März zerstreut, lohnen sich zur Erntezeit.
  • Geht auf schlechter Weid die Kuh, verlierst du Weid ... und Milch dazu.
  • Gut gefuttert - viel gebuttert. Striegel und Streu tun mehr als Heu.
  • Beim Pferdehandel und Rinderkauf, tu die Augen oder den Beutel auf.
  • Nur dem wird die Kette vom Wagen gestohlen, der zu faul ist, sie abends ins Haus zu holen.
  • Der Segen kommt von oben, aber von unten hilft man dazu.
  • Der Mann fährt mit vier Pferden nicht soviel ins Haus, als die Frau in der Schürze kann tragen hinaus.
  • Gilts um ein Huhn zu rechten, sei gescheit: Nimm du ein Ei dafür und laß den Streit.
  • Denk nicht so drauf, deine Äcker zu mehren, als die du hast, zu pflegen und zu kehren.
  • Gute Schulen am rechten Platz sind für die Gemeinden ein rechter Schatz; aber zu Hause gute Zucht, die bringt erst die rechte Frucht.
  • Es wird schlimm im Hause stahn, wenn die Henne kräht lauter als der Hahn.
  • Der Hahn ist des Bauern Uhrwerk.
  • Schwarze Kühe geben auch weiße Milch.
  • Man soll nicht mit vieren fahren, wenn man nur für zwei Pferde Futter hat.
  • Man soll nicht eine Kuh hungern lassen, wenn man eine Ziege gut füttern kann.
  • Wer weiter will als sein Pferd, sitze ab und gehe zu Fuß.
  • Wo der Mistwagen nicht hinkommt, kommt der Erntewagen nicht her.

Das memelländische Handwerk

Fast auf jedem Dorfe des Memelgebietes gibt es Handwerker, die für die notwendigsten Bedürfnisse der Ortseingesessenen sorgen. Die meisten Handwerker arbeiten nur auf Bestellungen; andere bringen außerdem noch ihre Erezugnisse in den Handel, so Klempner, Tischler, Schuhmacher usw. Solche Handwerker haben in größeren Orten auch Ladengeschäfte, in denen sie ihre Waren feilbieten. Im Interesse des ehrsamen Handwerkers wäre es sehr zu wünschen, wenn ein jeder die Mahnung beherzigen würde: "Kaufe, was du bekommen kannst, möglichst nur an deinem Wohnorte!"

Die Handwerker haben sich zu Innungen und Einkaufsgenossenschaften zusammengetan. Sie sind selbst darauf bedacht, ungeeignete Kräfte vom selbständigen Betrieb eines Handwerks auszuschließen und für einen tüchtigen, gut vorbereiteten Nachwuchs zu sorgen. Alle Lehrlinge sind verpflichtet, bis zum 18. Lebensjahre die Fortbildungsschule zu besuchen. Nach Beendigung der Lehrzeit wird eine Gesellenprüfung abgehalten, und wer Meister werden will, muß sich einer besonderen Prüfung unterziehen. Nur wer diese mit Erfolg abgelegt hat, darf später Lehrlinge beschäftigen. Zur Vorbereitung auf solche Prüfungen hat die Handwerkskammer des Memelgebietes besondere Meisterkurse eingerichtet.

Industrie

Verschieden Industriezweige verarbeiten in erster Reihe landwirtschaftliche Erzeugnisse. Die Müllerei nutzt noch sehr häufig die Kraft des Windes aus; denn im ganzen Memelgebiete ist eine große Anzahl von Windmühlen vorhanden. Daneben sind verschiedene Wassermühlen in Betrieb, so bei Eckitten, in Werden und vor allen Dingen in Wischwill. Außerdem gibt es aber auch schon eine ganze Reihe von Dampfmühlen. Die Meiereien stellen Butter und Käse her. Durch die Torfstreufabrik wird das Moor ausgenutzt. Die Brauereien bereiten aus der Gerste ihre Biere, und die Ziegeleien sorgen für das wichtigste Baumaterial. Ihnen ist es zu verdanken, wenn auch im Memelgebiete die alten Holz- und Lehmbauten allmählich verschwinden und den modernen Ziegelbauten Platz machen.

In Memel sind eine Schiffswerft [1] und Waggonfabrik entstanden. Neuerdings ist eine Konservenfabrik gegründet worden. In der Zellulose- und in den Schäl- und Möbelfabriken wird das rohe Holz in andere Werte umgesetzt, und sodann gibt es vor allen Dingen an der Memel, dem Rußstrom, am langgestreckten Haffufer und an der Dange eine sehr große Anzahl von Schneidemühlen. Gerade durch sie ist die Holzindustrie zum Hauptindustriezwei des ganzen Memelgebietes geworden.

In den zahlreichen Betrieben sind Tausende von Arbeitern beschäftigt; neben den zahlreichen Angestellten finden sie alle dort ihren Unterhalt und Verdienst. Die verschiedenen Gruppen von Arbeitern sind in den Gewerkschaften zusammengeschlossen und bilden einen wichtigen Bestandteil der gesamten Bevölkerung des Memelgebietes.

Handel

Der günstigen Lage und des eisfreien Hafens wegen spielt der Handel im Wirtschaftsleben des Memelgebietes eine äußerst wichtige Rolle. Es hat einen sehr bequemen Zugang zum Meere und damit zum Welthandel. Die Holzindustrie schickt ihre Erezeugnisse nach allen Richtungen hinaus, besonders nach England, und die Großkaufleute beziehen ihre Waren aus den verschiedensten Welthandelszentren und verteilen sie dann auf den Kleinhandel bis in den entlegensten Dorfkrug hinein. Kaffee, Tee, Zucker, Heringe, Seife, Schmalz, Salz, Zigarren, Eisen- und Kurzwaren, Spiritus und Petroleum sind sozusagen in jeder Hauswirtschaft unentbehrlich geworden. Dazu kommt, daß das Memelgebiet von Nachbarländern umgeben ist, zu denen es in in günstige wirtschaftliche Beziehungen zu treten vermag. Auf einer großen Strecke grenzt es an das alte Mutterland, welches ihm industrielle Erzeugnisse liefern kann und selbst landwirtschaftliche Produkte nötig hat. Das angrenzende Haff und der Memelstrom ermöglichen ferner einen billigen Wassertransport nach Litauen und anderen Bedarfsländern. Zu ihnen allen ist eine Ueberleitung oder mit ihnen ein Austausch von Waren bequem zu erreichen, sodaß man mit Recht das Memelgebiet "eine Brücke des Ostens" hat nennen können. Wenn nicht alle Zeichen trügen, so kann man annehmen, daß unser Heimatland, insbesondere durch seine von Natur aus begünstigte Lage, einer aussichtsreichen Entwickelung entgegengehen und daß jedenfalls, nach Eintritt sicherer politischer Verhältnisse seine volkswirtschaftliche Bedeutung noch ganz erheblich wachsen dürfte.

Verkehrswesen

Die ausgedehnte Landwirtschaft des Memelgebietes braucht zum Absatz ihrer Produkte gute Wege und Chausseen, und diese stehen ihr erfreulicherweise in selten reichem Maße zur Verfügung. Alle größeren Ortschaften von Nimmersatt bis Schmalleningken sind durch Stein- oder Kiesstraßen miteinander verbunden. Von den Verkehrsmittelpunkten Memel und Heydekrug strahlen sie nach allen Richtungen bis zu den entlegensten Moordörfern aus. Das Rückgrat des Verkehrs bildet die Tilsit - Memeler Chaussee mit der sie begleitenden Eisenbahn. Alle drei Kreise werden außerdem noch von Neben- und Kleinbahnen durchzogen. Pogegen-Laugßargen, Memel-Bajohren, Memel-Plicken, Memel-Dawillen-Pößeiten, Memel-Dawillen-Laugallen, Heydekrug-Kolletzischken, Pogegen-Schmalleningken.) Von Tilsit nach Mikieten verkehrt eine elektrische Bahn. Alle Haltestellen sind bequem zu erreichen. Hier werden das ganze Jahr hindurch landwirtschaftliche Erzeugnisse, so Getreide, Kartoffeln Heu, Stroh, Torf, Holz, Vieh, Geflügel usw., verladen. Im Sommer setzt auch ein lebhafter Schiffs- und Dampferverkehr ein, der die Eisenbahn bedeutend entlastet.

Sollen die Wege und Chausseen in gutem Zustande bleiben, so müssen sie fortwährend gepflegt und verbessert werden. In den langen Kriegs- und Nachkriegsjahren war das nicht immer möglich. Die Staats- und Kreisverwaltungen sind jetzt wieder helfend und fördernd dabei. Die Landwege werden durch die angrenzenden Dorfeingesessenen in Ordnung gehalten. Um den Fuhrwerksverkehr zu erleichtern, müssen ausgefahrene Wege geebnet, Gräben zum Wasserabzug geräumt, schwer passierbare Stellen mit Sand oder Kies beschüttet werden usw.

Postwesen

Dem Verkehr dienen auch die Postanstalten. Solange es diese Einrichtungen nicht gab, dauerte es sehr lange, bis ein Brief endlich an den Empfänger gelangte. Auch waren anfangs die Posten sehr weit voneinander entfernt. Viele waren ja auch nicht notwendig; denn mit dem Lesen und Schreiben war es doch früher traurig genug. Jetzt muß das jedes Kind in unseren Schulen lernen und auch die einfachsten Leute in den entlegensten Dörfern halten ihre Zeitungen und können erfahren, was in der großen, weiten Welt passiert. Eine schnelle Bestellung ist daher erforderlich, und deshalb ist auch eine große Zahl naheliegender Postanstalten eingerichtet worden. Die größten Postämter sind in Memel und Heydekrug. Den Aemtern sind die Postagenturen und Posthilfsstellen angeschlossen. Zur Beförderung eiliger Nachrichten dienen Telephon und Telegraph. Alle Behörden und fast jeder Kaufmann und größere Besitzer haben heute einen Telephonanschluß.

Literatur

  • Meyer, Richard (Kreisschulrat in Heydekrug): Heimatkunde des Memelgebietes, Robert Schmidt´s Buchhandlung, Memel 1922, S. 55 ff