Eine Reise in die Vergangenheit!

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Was sie wiederfanden - Ostpreußen in der alten Heimat

Eine geborene Pillkallerin, jetzt im Ausland lebend, hatte im Sommer 1972 die seltene Gelegenheit, bei Freunden in der UdSSR Urlaub zu machen und in dieser Zeit unsere lieben Heimatstädte Schloßberg (Dobrowolsk), Haselberg (Krasnosnamensk) und den Nachbarstädten einen kurzen Besuch abzustatten. Ihre Eindrücke schildert der nachstehende Bericht [1].

Reise in die Vergangenheit!

So will ich meinen Brief nennen. Ich will versuchen, Euch, meine Lieben, meine Eindrücke, die meine Augen aufgesogen haben, in Worten wiederzugeben; ob es mir gelingt — kann ich nicht sagen — das Urteil überlasse ich Euch.

Mein Urlaub war wohl der Schönste und auch der Traurigste, den ich bisher erleben durfte. In meinem Brief will ich Ortsnamen verwenden, die uns geläufiger aus der Vergangenheit sind.
Die Aufnahme bei Freunden war derart herzlich und mit einer Gastfreundschaft verbunden, die erschütternd war. Wir besuchten Wilna[1] , Kowno[2] und Vievis[3].
Freunde von G. luden mich ein — ich erlebte einen echt litauischen Nachmittag bei gutem Essen mit Nationalgerichten und guten Getränken.
Dann fiel der Tag, der die größte Entscheidung für meinen Urlaub brachte. Ein bekanntes Ehepaar, das einen Moskwitsch besitzt, entschloss sich, am 26. 8. in unsere Heimat mit mir zu fahren. — Zur Fahrt ins russische Föderationsgebiet.
Ich konnte in der vorhergehenden Nacht kein Auge schließen. Dann fuhren wir nach dem Mittagessen los. Wenn Ihr eine Landkarte habt, so verfolgt jetzt meine Reise, die 1200 km lang notwendig war, um zu sehen: Die tote Stadt „Dobrowolsk".

Also: Kowno in Richtung Marjampol[4], Wylkowyszki[5], Wierzbolowo (Wirballen)[6], Kibarty[7], Eydtkuhnen, Stallupönen, Gumbinnen, rauf in Richtung Tilsit. Man kann mit dem Bus nach Schloßberg fahren, überall gute Asphaltstraßen. Weiter Eydtkuhnen, Gumbinnen, Mallwischken, Lasdehnen, weil lt. russischer Landkarte Schloßberg zu klein ausgedruckt, dafür Lasdehnen fett gedruckt war. Auf der Hinfahrt in Mallwen Stop durch Militärfahrzeuge, riesige Panzer! Keine Häuser im weiten Umkreis, nur Gartenbäume erinnern an Gehöfte und dazugehörige Obstgärten meistens im Viereck! „Dörfer ohne Häuser"!

Wir bogen in Mallwischken rechts ab nach Pillkallen, durch Pillkallen durch — ich erkannte nichts — nach Krasnosnamensk (Lasdehnen). Erst dort erkannte ich die Szeszuppe, als wir auf der Brücke waren, das Wehr sahen, wo wir als Kinder gebadet haben, die Mühle. Ich schrie auf und: Nein, hier ist nicht meine Heimat!
G., die bald verzweifelte,- L: Kannst du dich genau erinnern? Ich weinte verzweifelt. Wir fuhren nun zurück zum Markt; dort erkannte ich das ehemalige Hotel und etliche Häuser; viel steht noch von Lasdehnen, sehr viel sogar noch; darum steht auf der Landkarte „Krasnosnamensk" so groß und fett gedruckt. Wir hielten an. G. und S. hielten einen alten Mann an, sprachen ihn auf russisch an. Sie fragten ihn nach Pillkallen: ja, dort in dieser Richtung müsst ihr fahren, obwohl ich es nun auch wieder wusste. So fuhren wir „zurück"! Brücke in Lasdehnen vorhanden. L. fährt um die Kirche herum. Siemunds Hotel unverändert. Mühle in Betrieb. Zwischen Lasdehnen und Schloßberg (1/4 der Strecke vor Schloßberg) drei bis vier alte Häuser gesehen. Försterei Bagdohnen bewohnt.
Meine Nerven waren zum Zerbersten. Von weitem sah ich rechts den Wasserturm, der nur ein kleiner Stumpf noch ist; weiter hinten, einsam und verlassen, unser ehemals schönes, helles Krankenhaus, daran kein Putz mehr ist, verfallen!

Der liebe Gott weiß wohl, warum er Disteln wachsen lässt: um alles zu verbergen.
Kein Zaun, kein Weg, nur Disteln. Keine Bäume, nur verkrüppeltes Etwas. Links und rechts nichts mehr, nur Disteln, kein Haus mehr, nichts, nichts, nichts. Der Markt — lieber Gott, warum hast du das zugelassen?

Ich steige aus dem Auto — meine Beine versagen —, ich schäme mich nicht zu sagen: ich war am Ende. T. und M. hielten mich fest, und so stieg ich, wir hatten das Auto auf der Seite der Stallupöner Straße abgestellt, aus. Die Bäume, die die Kirche säumen, stehen noch — sie sind so verkrüppelt! Der Schutt der Kirche zugewachsen, der Zementboden der Kirche ist jetzt ein Tanzplatz. Aber wo sind die Häuser? Alles ist fort, mir kommt alles so furchtbar klein vor. Ich gehe Schritt vor Schritt auf die Stelle zu, wo wir geboren sind. Ich suche mit den Augen die Stelle, wo auch meine Wiege stand. Mir fällt dort ein, in diesem Moment, wo Muttel und ihr . . . mit mir abends gebetet habt.

... und so lebt Schloßberg in unserer Erinnerung!

Die kleinen Straßenbäume stehen; sie sind wohl wieder ausgeschlagen; denn die Mitte von jedem Stamm ist wulstig und verkrüppelt, sie säumen den ganzen Markt und alle Straßen. Alle Straßen gut und neu asphaltiert. Elektrisches Licht. Auffällig: alle Bäume stehen. Nach L's Ansicht starker Beschuss, der die Bäume am Markt und in den Straßen zunächst bis auf ein Meter abrasierte, dicke Wulste und Weiterwuchs mit großen Kronen. Aller Häuserschutt soll nach Königsberg transportiert worden sein. Kirche: nur Fußboden vorhanden: Tanzplatz mit Taufbecken! Es steht nichts mehr, nichts, nichts, nichts. Ich steige durch einen Distelwald, dort ist noch ein Stückchen Mauerrest — sonst nichts. Rechts die Apotheke: nichts mehr —, links die Volksbank; nichts mehr — dann ein Haus um die Volksbankecke (das dritte von rechts), dann links und rechts nichts mehr. Das Hotel bis zur Lasdehner Straße: nichts mehr — Ebene: rechts und links nichts mehr — nichts, nichts. — Nur diese Bäume — sie muten wie drohende Finger an. Auf der gegenüberliegenden Marktseite nichts mehr. Dort, wo Manleiteners waren und die schönen Geschäfte; Berge — wahrscheinlich Schutt — alles überwuchert. Ich wandere weiter, die Straße zum Bahnhof — ich weiß den Namen nicht mehr - steht links noch eine Mauer, dort hausen Menschen! Dann kommt wieder nichts. Rechts steht dann eine riesige Mauer - Rest, wo die große Fleischerei war. Wo Kirchsteins Ecke war, nichts —; ein Hinterhaus: dort hausen auch Menschen; dann kommt die Gasse zum Kino — das Kino steht so, als wenn nichts geschehen wäre. Die Tür, die Griffe, daran nichts beschädigt und in Betrieb. Der Pferdemarkt eine Wildnis. Ich drehe mich um und gehe zurück — links riesige Ziegelhaufen, in einem Hinterhaus auch wieder Menschen — dann kommen die einzigen zwei Häuser, die noch den Markt säumen bis zur Stallupöner Straße. Am Markt stehen nur die beiden Häuser von Papier-Müller (Gruber und Raiffeisenbank und Drewenings). Blick vom Denkmalsockel weit ins Land hinein. Auf Demenats Hof Ziehbrunnen bzw. Kettenzug, es steht das Hinterhofgebäude, Holztreppe noch vorhanden. Oben wohnte mal eine Familie Kotzan. Trampelpfad von Keils Haus zum Ziehbrunnen. Zwei Läden: im Hause Drewenings Lebensmittelladen, in der Raiffeisenbank Laden mit Töpfen und sonstigen Bedarfsartikeln. Alter gepflasterter Bürgersteig von Chlupka & Baginski bis zum ehemaligen Eingang zu den Wohnungen Dr. Pingel usw. vorhanden, sonst alle breiten Bürgersteigplatten fort. Schuttgrenze bis zu den Bäumen. Ich gehe noch einmal zurück — wie kommt mir alles zusammengeschrumpft vor; ob wohl die damalige Hitze alles zusammengeschmolzen hat? Sogar die Steine auf dem Markt sind so komisch klein und rund, kann es so etwas geben?

Die Sonne schickt ihre letzten Strahlen über die tote Stadt. Ich bitte S., noch die Stallupöner Straße raufzufahren. Er macht alles schweigsam, hält meine eiskalten Hände und fährt im Schritttempo an. Links ein verfallenes Haus, 50 Meter rechts ein total verkommenes Haus — aber es wohnen Menschen. Das große, schöne Haus noch hell und ganz weiß, das die Wegkreuzung zum Park rechts und die Stallupöner Straße zeichnet. Das Beelitzsche Haus sehr gepflegt! Durchblick zum Anlagenteich! Aufgang zum Friedhof mit vollständigem Pflaster vorhanden, dann dichter Wald und Gestrüpp. Links die Mühle — Gabert — nichts mehr, nichts. Ebene — man kann weit ins Land sehen. Dann kommt das Schützenhaus — es steht wie im Urwald — zerschossen — aber Licht drin — Menschen, zerschossen, aber Menschen. Die Balkontür mit Brettern vernagelt, das Küchenfenster entzwei, die Fensterrahmen baumeln im Wind, schaurig. Unten wohnen Menschen. Dann weitere sechs Häuser vorhanden, das Schmidtsche Haus, wo ich wohnte, noch gut im Verputz. Aber davor Graben mit Enten! Ich versuche, aus dem Auto zu fotografieren. Es ist nur so dämmrig.

Blick von der Stallupöner Chaussee auf der Höhe des Sportplatzes bis hin zu Kalchers. Weite Kiefernanpflanzung, von der Chaussee, über Sportplatz und Wasserwerk hinweg. Absolut keine Häuser zu sehen. Kiefern ca. 1 Meter hoch. Wir drehen um — zurück zum Markt. Kein Bahnhof mehr, nur paar Baracken. Bei Kalchers muss noch gearbeitet werden, Baracken, dieser eine Schornstein, sonst nichts mehr.
Was ich gezählt habe in meiner Aufregung sind 15 Häuser. Noch ein Abschiedsblick — ich will fotografieren. Halt bei den Kirchenbäumen in Richtung Stallupöner Straße. Werden beobachtet von einigen Männern vor dem Wartehäuschen (Bushaltestelle Ecke Fleischerei Schweiger). Da halten zwei russische Autos, S. zieht mir schnell den Fotoapparat aus der Hand — wir fahren zurück nach Lasdehnen.

In Lasdehnen geht die Sonne unter — wir fahren nun bei Vollmond weiter über Ragnit nach Tilsit. Die Innenstadt ist durch Neubauten unkenntlich. Wir fahren in der Nacht noch nach Heydekrug, von dort lassen wir uns durch ein Pontonfahrzeug übersetzen über die Memel — es ist nachts 12 Uhr — unser Auto, eine Kuh und drei betrunkene Männer. Wir fahren nach R. rein. Dort wohnen Freunde. Sie werden geweckt, wir werden mit viel Herzlichkeit empfangen, müssen viel essen, viel, viel erzählen und früh um ½ 4 lege ich mich mit T. schlafen. In den Ehebetten schlafen sechs Personen. Am Sonntagvormittag fahren alle, bis auf T., die Hausfrau, zur Kirche — 80 km! Dort werden die drei Kinder K. eingesegnet. Wir drei Frauen frühstücken, es klopft, kommt eine Frau in meinem Alter: Habe gehört, ihr habt Besuch. Woher sie es wusste, ich kann es nicht sagen. Wir fielen uns in die Arme, heulten, und sie sprach so ein herrlich unverblümtes breites Deutsch. Wir schlossen Freundschaft — Adressen — und sie holte eine Flasche Sekt. Wir saßen bis um 14 Uhr. Der Abschied von allen diesen wunderbaren Menschen war erschütternd. Sie weinten auf der Straße, küssten uns ab und riefen laut: Auf Wiedersehen!

Wir ließen uns wieder übersetzen, und nun ging die Fahrt wieder in Richtung Heydekrug, Tilsit, auf der Memellandseite bis Schmalleningken — ich glaube, dort habe ich eine Postkarte eingesteckt, die ich noch in der Tasche hatte; mir ging's um den Poststempel. Dann immer an der Memel entlang bis Kowno nach F. Wir waren um 23 Uhr im Haus. Es war der Tag vor der Abreise. Wir saßen noch bis 2 Uhr zusammen. — Ich habe keine Tränen mehr — ich habe sie alle in Dobrowolsk gelassen.

Meine Lieben, dieser Brief ist wohl lang, aber nur ein Bruchteil meiner Erlebnisse und Erinnerungen auf meiner Reise in die Vergangenheit.
Es grüßt Euch von ganzem Herzen Eure B.

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  1. Erschienen im „Schloßberger Heimatbrief“ Nr. 10, Jahrgang 1972, Herausgeber: Kreisgemeinschaft Schloßberg / Ostpr. e.V. in der Landmannschaft Ostpreußen e.V., Rote-Kreuz-Straße 6, 21423 Winsen. Genehmigung zur Veröffentlichung liegt vor.