REISE NACH LITAUEN über Meißnersrode

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Veröffentlicht im: "Heimatbrief der Oberschule Schloßberg", Nr.: 52 / 2004 Seite 86
Bericht von Gustav Bense, Fußnotenergänzung Günther Kraemer

Warum ging ich 1947 nach Litauen?

Warum fahre ich 50 Jahre danach wieder nach Litauen?

Als im Mai 1951, sechs Jahre nach Kriegsende, der Transport mit Flüchtlingen überwiegend aus dem Gebiet des Nachkriegs-Litauen über die Oderbrücke bei Frankfurt (Oder) rollte, war die Freude groß, alles überstanden zu haben, endlich in Deutschland zu sein und deutsch sprechen zu dürfen. Sicher hatte damals niemand den Gedanken, jemals wieder nach Litauen zu fahren. Man wollte alles über die vergangene Zeit so schnell wie möglich vergessen und das Erlebte aus dem Gedächtnis verdrängen.

Die Gedanken an die schwere und verworrene Zeit in Litauen konnte ich nie völlig unterdrücken und diese kamen immer wieder auf.

Die Zeit hat sich geändert und die Reisebedingungen haben sich verbessert - Litauen öffnet sich für Besucher.

Im August 1996 bin ich zum ersten Mal in das Königsberger Gebiet und danach in den Jahren 2003 und 2004 nach Litauen auf die Kurische Nehrung mit Ausflügen in diese Gegend gereist, in der ich Jahre meiner Jugend verbracht habe.

Im Jahr 1947 ging ich nach Litauen um zu betteln und um zu überleben; heute fahre ich als Tourist. Beim Aufsuchen dieses Gebietes werden Erinnerungen wach und Bilder wieder lebendig, aber an vieles kann ich mich nicht mehr erinnern und Zusammenhänge sind verschwommen.

Unter schwierigen Umständen sind wir, meine Verwandten, Geschwister und ich, im Frühjahr 1945 noch vor Ende des Krieges zu Fuß von Cranz/Ostsee nach Schlossberg gegangen, genauer gesagt, getrieben worden. Nach Aufenthalten in Kiesdorf (bis Herbst 1945) und Haselberg sind wir schließlich im Spätsommer 1946 nach Meißnersrode (bis 1936 Jucknaten) gekommen. Haselberg mussten wir auf Anordnung der russischen Kommandantur verlassen. Mir ist nicht bekannt, aus welchem Grund wir umziehen mussten, es könnte gewesen sein:

- man brauchte in Haselberg freien Raum für die Ansiedlung russischer Zivilisten,
- in Meißnersrode sollte eine Sovchose [1] eingerichtet werden.
Süd-Ansicht, 1946 wohnte in der östlichen Wohnung die Familie Bense, links neben dem Eingang das Küchenfenster und nach Norden zwei kleine Zimmer; 1996 wohnte hier eine junge russische Familie; Aufnahme Gustav Bense August 1996
Nord-Ost-Ansicht des Hauses, das Dachgeschoß ist 1996 unbewohnt, im Hintergrund sind noch Gebäudereste vom Hof August Siemoneit zu sehen; Aufnahme Gustav Bense 1996
Nord-Ost-Ansicht, 2003 ist die östliche Wohnung des Hauses unbewohnt, die russische Familie ist weggezogen, die Fenster sind zerstört; Aufnahme Gustav Bense Sommer 2003
Nord-Ost-Ansicht, 2010 ist das Haus auf der Ostseite wieder bewohnt, im Giebel ist ein neues Fenster, Meißnersrode wird mit elektrischer Energie versorgt, vom Hof August Siemoneit sind alle Gebäudereste abgetragen, Aufnahme Günther Kraemer 23. Mai 2010
Nord-West-Ansicht, der westliche Teil des Hauses macht einen unbewohnten Eindruck, in Blickrichtung führt die Straße ins Dorf Meißnersrode, Aufnahme Martin Kunst Juli 2011
Memel bei Jurarkas 1996. Mit solchen Booten setzte man über die Memel über. Aufnahme Gustav Bense

In Meißnersrode wohnten wir in einem Reihenhaus [2] am westlichen Ortsende, gleich dahinter befanden sich die Ruinen der Stallungen und des Herrenhauses [3]. Wir richteten die kleine Wohnung im östlichen Teil des Gebäudes her. Die „Wohnung“ bestand aus Flur mit Treppe, links Küche und nach Norden zwei kleine Zimmer. Der Aufgang (Treppe) zum Dachboden war verschlossen und verrammelt. Der westliche Teil des Gebäudes war verschlossen, zeitweilig hielten sich dort Russen auf. In diesen Räumen bin ich nie gewesen. Elektrischen Strom gab es nicht, Wasser musste von irgendwo hergeholt werden. Holz zum Heizen musste herbeigeschafft werden, dieses war eine Hauptbeschäftigung für die Kinder. In dieser „Wohnung“ lebte ich mit 8 bis 9 Personen. Auf dem Hof stand ein kleines Nebengebäude leer.

Im Inneren des Dorfes war verhältnismäßig wenig zerstört. Nach Osten gesehen (in der Ortsmitte) war rechts der Straße ein größeres Gehöft, mit dem Sitz der Sovchose, gegenüber waren ein Stall, oder mehrere, in Ziegelbauweise, in dem die Pferde untergestellt waren. Beide Gebäude standen 1996 nicht mehr.

Die arbeitsfähigen Frauen und Männer mussten in der Sovchose für ganz geringe Zuteilung von Lebensmitteln arbeiten, Lohn in Geld gab es zu der Zeit nicht. Ob es für Kinder etwas gab weiß ich nicht mehr. Die Sovchose war ein offenes Arbeitslager unter russischer Aufsicht und Kontrolle.

Futter für die Tiere wurde aus den umliegenden Ortschaften und Gehöften zusammengesucht. Wir Kinder suchten in der Umgebung täglich nach etwas Brauchbarem. Wie viel Personen [4] oder Familien damals in [Meißnersrode] lebten, ist mir nicht bekannt.

Das Schulgebäude von [Meißnersrode] ist mir nicht besonders in Erinnerung, es könnte so gewesen sein: Die Russen haben uns in „unserer Wohnung“ nicht belästigt und wir hatten zu den Russen keinen privaten Kontakt, haben diesen auch nicht gesucht. Um die Häuser, in denen Russen oder russische Familien wohnten, machten wir einen großen Bogen, so möglicherweise auch um das Schulgebäude. Mir fällt es nicht leicht, über diese verworrene Zeit zu berichten.

Der Winter -1946/1947- war hart und die Lage wurde immer unerträglicher. Ob die Felder im Frühjahr 1947 bestellt wurden und wie sich alles entwickelte oder alles zerfiel, kann ich nicht beschreiben, denn ich verließ Meißnersrode, trennte mich von meinen Verwandten und ging, zeitweise ganz alleine, nach Litauen.

Es hatte sich herumgesprochen, dass es in Litauen noch Bauern gäbe, bei denen man etwas zu Essen bekäme und vielleicht auch später arbeiten könnte. Nachdem schon einige dort waren, machte ich mich mit meinem Cousin eines Tages im Winter 1947 (das genaue Datum ist mir nicht mehr bekannt) zu Fuß über Tulpeningken in Richtung Litauen auf den Weg. Man konnte auch durch den Wald, Forst Memelwalde, und weiter über Sudargas [1] oder bei Šmalininkai, Schmalleningken [5] über die Memel in die Umgebung von Jurbarkas [6] gehen. Die Stadt Jurbarkas sollten wir meiden. Die Memel war zugefroren und diente als Verkehrsweg. Während der Schnee- und Eisschmelze waren die Wege schwer und die Memel nicht passierbar.

Wir gingen meistens zu zweit von Hof zu Hof, um nach etwas Essbarem zu betteln. Manchmal gaben uns die Bauern ein kleines Stück Brot, eine Kartoffel und seltener auch warmes Essen, wie Milchsuppe, Bartsch oder Ähnliches, Nicht selten, besonders im grenznahen Gebiet, oder wenn andere schon vor uns da waren, wurden wir abgewiesen. Die große Entfernung konnten wir nicht an einem Tag hin und zurückbewältigen. Also musste man sich um eine Übernachtung bemühen, hier wurden wir öfters wegschickt. Ich bin jedoch immer untergekommen und im Winter auch im warmen Haus.

Ich kann mich nicht daran erinnern, welche Wege und wie oft ich nach Litauen gegangen bin und welche Höfe ich aufgesucht habe. Grenzkontrollen gab es damals nicht, man musste sich aber vor herumlungernden Plünderern in Acht nehmen.

Jetzt bin ich die Strecke von Haselberg und Meißnersrode nach Litauen mit dem Auto abgefahren - diese kam mir sehr kurz vor [7]. Im Sommer 2004 habe ich bei Šmalininkai und bei Jurbarkas auf die Memel geschaut, die im Juni so friedlich dahinfließt. Die Brücke über die Memel bei Jurbarkas war damals, zumindest bis 1951, noch nicht gebaut.

Im Frühjahr 1947 ging ich alleine weiter und setzte bei Jubarkas über die Memel über, Geld zum Bezahlen hatte ich nicht, ein Litauer nahm mich mit einem Ruderboot mit. Die Verbindung zu meinen zwei Schwestern hatte ich inzwischen verloren. Ich hatte nichts, nur einen Rucksack, den ich gegen meinen Schulranzen eingetauscht hatte; ich hatte keine eigene Decke, Wäsche und Schuhe zum Wechseln - und ich hatte keine Papiere. Ich trug einen roten Mädchenmantel meiner 1945 in Haselberg verstorbenen Schwester. Dieses besondere Merkmal sollte sich als nützlich erweisen. Eine Bäuerin oder ein Bauer gab mir den Hinweis, dass meine Schwester ihren kleinen Bruder suchte, der einen roten Mantel trug (berniùkas su raudónų mantelų). So erfuhr ich den Aufenthalt meiner Schwester Elfriede, die beim Bauer Kleopas Greičius im Dorf Pantvartžiai am Flüsschen Antvardé untergekommen war. Das Dorf bestand aus Einzelgehöften mit dem dazugehörenden Acker. Bei diesem Bauer blieb ich einige Zeit mit meiner Schwester zusammen, wurde dann wenige Höfe weiter an den Bauern Gudas vermittelt. Der Bauer hatte ein litauisches Dienstmädchen, genannt Levosa, so dass ich nur leichtere Arbeit verrichten musste, wie die Gänse hüten, das Vieh bewachen, Holz stapeln, beim Weben helfen, Feldarbeit und vieles mehr. Das Leben war bescheiden, aber ich war hier im Geborgenen, bekam das gleiche Essen und hatte meine eigene Schlafstelle - eine ausgediente Mehlkiste in der Kleté [8].

Im Frühjahr 1948 ging ich zu einem anderen Bauern etwa sechs Kilometer nördlich von Girdžiai [2]. An die genauen Umstände kann ich mich nicht mehr erinnern. Den Namen des Bauern, ich glaube er hieß Bylas, und zu welchem Dorf dieser Hof gehörte, weiß ich nicht mehr. Das Gehöft lag direkt am Waldesrand. Hier fand ich rauere Verhältnisse vor. Der Bauer hatte mich aufgenommen, um hauptsächlich das Vieh zu hüten. Der Bauer hatte einen großen Sohn, der aber meistens nicht auf dem Hof war. Ich war froh darüber, denn er war auf mich nicht gut zu sprechen.

Die Rinder dieses Bauern und die eines Nachbarn, zusammen 10 - 12 Kühe und Kälber, wurden morgens in den Wald getrieben. Als Hütejunge musste man aufpassen, dass die Herde zusammenblieb und man musste wissen, auf welchen Wiesen, die zur Heumahd vorgesehen waren, nicht geweidet werden durfte, und die Stellen mit genießbarem Gras sowie die Wasserstellen zum Tränken der Tiere kennen. Es waren auch Herden der anderen Bauern unterwegs, denen man das Revier nicht streitig machen durfte. Öfters ließ ich die Herde auf einer großen Wiese weiden, die zu einem staatlichen Gut gehörte. Dort traf ich mich mit anderen Hirten, es waren alles Litauer. Abends wurden die Kühe zum Melken wieder auf den Hof getrieben. Im Übrigen musste ich auf dem Feld und bei der Ernte mitarbeiten. Die Bauern betrieben eine einfache Landwirtschaft in der Art einer Drei-Felder-Wirtschaft, d.h., ein Drittel der Ackerfläche wurde nicht bestellt und lag brach. Diese Fläche diente als Weide oder als Auslauf für das Vieh. Die Feldwirtschaft wurde überwiegend in Handarbeit betrieben, Maschinen besaßen nur wenige und diese wurden untereinander ausgeliehen. Einen aufeinander abgestimmten Maschinenpark und Traktoren gab es dort nicht. Angebaut wurde Getreide und Flachs sowie Kartoffeln, Feldrüben selten, dafür Kohlrüben und Weißkohl für Sauerkraut im Hausgarten. Traditionell wurde die Ernte in Form einer "talka" (freiwillige gegenseitige Hilfe) eingebracht. Das Getreide wurde in der Scheune eingebanst und später gedroschen. Elektrischen Strom gab es nicht, zum Antrieb des Dreschkastens wurden einfache Dieselmotoren mit den zwei Schwungscheiben, aber auch noch Rosswerke (Göpelwerke), die von Pferden angetrieben wurden, eingesetzt; die Russen setzten an den Göpelwerken auch Menschen ein. Meine Aufgabe war es u.a., auf der Mitte des Göpelwerkes stehend die Pferde so anzutreiben, dass der Antrieb gleichmäßig lief. Besonders gefährlich wurde es, wenn die Pferde durchdrehten und man dabei in die Räder kommen konnte, oder man musste zeitig abspringen.

Im Winter war es für mich nicht leichter. Die Bauern fuhren in den Wald, sie mussten ein Soll an Holzeinschlag erbringen, den Wald auslichten und sie brachten Holz für den Eigenbedarf auf den Hof. Manchmal blieben die Bauern, auch im Winter, mehrere Tage weg und so mussten die Bäuerin und ich das Vieh und den Hof versorgen. Ansonsten waren die Bauern im Winter damit beschäftigt allerlei herzustellen oder zu reparieren. Die Litauer konnten viele Gebrauchsgegenstände selber herstellen.

In dieser Zeit hatte ich Kontakt zu meinen zwei Geschwistern; die inzwischen auch die Höfe gewechselt hatten. Getroffen haben wir uns sehr selten im Jahr, Briefverkehr war nicht möglich. An den Wochentagen mussten wir arbeiten und zum Wochenende oder an den Feiertagen den Hof versorgen, da die Bauersleute zur Kirche gingen, um Bekannte zu treffen und Neuigkeiten auszutauschen oder kräftig zu feiern, z.B. den Namenstag anstelle des Geburtstages. Wenn sich eine Gelegenheit für einen Besuch ergab, sind wir zu Fuß gegangen. Fahrräder oder gar Busverkehr gab es nicht. Vorsichtshalber sollten wir nicht auf den Hauptwegen sondern auf Trampelpfaden gehen, die mitunter sogar die kürzere Verbindung waren.

Diese waldreiche Gegend hatte auch eine nicht ungefährliche Seite, denn in diesem Gebiet waren Partisanen agil. Die Partisanen wurden "miškiniai (die im Wald sind, Waldleute, Waldbrüder - nicht zu verwechseln mit Waldarbeiter oder Förster) gekannt und staatlich bezeichnete man sie als Banditen. Die Partisanenbewegung in Litauen vermag ich nicht zu beschreiben, der nationale Freiheits- und Unabhängigkeitsgedanke spielte eine große Rolle. Ihnen gegenüber standen die russisch-litauische Miliz die "stribiai" [9], eine aus Litauern zusammengesetzte Truppe sowie die "komjaunuõliai“ [10] (vgl. russisch Komsomolzen), die mehr ideologisch agitierten. Diese beiden Gruppen attackierten sich gegenseitig mitunter sehr heftig. Die Litauer, insbesondere die Bauern mussten zwischen diesen beiden Blöcken leben und sich entsprechend verhalten. Als deutscher Junge sollte ich möglichst beiden Gruppen aus dem Wege gehen und mich zeitig verstecken.

Die Partisanen wurden zum Teil von den Bauern versorgt oder sie verlangten, was sie brauchten. An eine Beköstigung der Partisanen kann ich mich erinnern. Zum Abend wurde ein Essen vorbereitet, es kamen etwa fünfzehn Männer, im Wald standen mindestens zwei Wachen, die sich abwechselten und auf dem Hof hielt einer der Bauernfamilie Wache, um Ruhe auf dem Hof zu wahren. Ich lag als "krankes Kind“ im Nebenraum im Bett. Schlafen? Das werde ich nie vergessen. Es wurden die alte litauische Nationalhymne "Lietuva, tevine musu ..." und nationale, geistige Lieder gesungen. Am nächsten Morgen wurden auf besondere Weise alle Spuren verwischt.

Wenn dann in absehbarer Zeit die Miliz oder die anderen auftauchten, um den Bauern auszufragen und den Hof auf der Suche nach Partisanen oder auf Hinweise auf diese durchwühlten, sah alles anders aus. Fanden sie dabei illegal gebrannten Schnaps, tranken sie ihn mit dem Bauern oder sie nahmen beide mit, den Bauern und den Schnaps. Wenn eine größere Aktion der Miliz vorher bekannt wurde, ging der Bauer mit den Pferden und anderer Habe in den Wald und blieb auch nachts weg.

Über die Wölfe: Es ist sicher, dass es in dieser waldreichen Gegend Wölfe gab. Aber die liefen dort nicht so herum, wie oft über den Osten berichtet wird. In dem ganzen Jahr, in dem ich hier unmittelbar am oder im Wald lebte, habe ich nur einmal bewusst einen einzelnen Wolf am Feldrand gesehen. Manchmal haben die Kühe besonders aufmerksam reagiert, es könnte aber auch etwas anderes gewesen sein. Ich habe auch nicht gehört, dass in der Umgebung - bei entsprechender Vorsicht - ein Haustier vom Wolf gerissen worden sei. In mondhellen Winternächten war das Heulen der Wölfe zu hören. Die Litauer hatten großen Respekt vor Wölfen.

Im Frühjahr 1949 verließ ich diesen Hof. Von der Bauernfamilie bekam ich kein Geld, sondern nur neue Sachen, wie Holzpantinen, Wäsche, auch Unterwäsche aus selbst hergestelltem Leinen, eine Jacke aus Wolltuch, Wollsocken und nicht mehr (solche Stücke findet man heute nicht einmal im Museum). Ich hatte jedoch etwas Geld: in der Herde des Bauern war ein Bulle herangewachsen. Die anderen Bauern brachten ihre Kühe zum Decken und wenn die Kuh erfolgreich aufgenommen hatte, bekam ich als Hütejunge einige Rubel - das war so Sitte.

Wer das engagiert hatte, dass mich wieder der Bauer Kleopas Greičius aufnahm, weiß ich nicht. Meine Schwester arbeitete nicht mehr hier. Der Bauer hatte einen litauischen Knecht, der hieß Jonas und war nicht regelmäßig auf dem Hof. Soweit mir bekannt, hatte das Ehepaar Greičius keine eigenen Kinder, ich wurde sehr besorgt aufgenommen und musste die Hofarbeit verrichten, vor allem, wenn Jonas nicht da war.

Der Bauer Greičius sorgte dafür, dass ich in die Schule kommen sollte. Die 1. Klasse Grundschule hatte ich schon in Schlossberg 1944 abgeschlossen. Nun kam das entscheidende Problem: ich musste ein Litauer sein und wurde jetzt Augustinas Greičius genannt. Der Bauer sprach mit dem Lehrer und somit war alles geregelt. Ich bekam bessere, typisch litauische Kleidung, wie Filzstiefel aus Schafwolle, Wollpullover, eine richtige Schaffelljacke, eine Pelzmütze und anderes. Die Schule befand sich im Dorf Antkalniškai [3] [11], unweit von Jurbarkas. Der Unterricht fand für die erste bis vierte Klasse in einem Raum und mit nur einem Lehrer statt. Ich wurde in die zweite Klasse eingestuft, erledigte die Aufgaben für die dritte Klasse gleich mit und wurde im nächsten Schuljahr 1950/51 in die vierte Klasse eingestuft. Das Schuljahr war kurz, da Kinder im Sommer und im Herbst für die Arbeit gebraucht wurden. Der Fußweg zur Schule betrug etwa vier Kilometer und war bei jedem Wetter, besonders im Winter, beschwerlich.

Wer nun von den Schülern wusste, dass ich kein Litauer war, ist mir nicht bekannt geworden. Zu spüren bekam ich den Unterschied nicht.

Die litauische Umgangssprache hatte ich schnell gelernt und konnte in der Schule die Sprachkenntnisse verbessern. Nach nun 50 Jahren reichen meine Litauisch-Kenntnisse für eine fließende Verständigung nicht mehr aus. Es sind neue Begriffe hinzugekommen, die ich damals nicht kannte oder nicht brauchte, wie z.B. aus Gastronomie, Verkehr, Stadt u.a.m. Die englische Sprache ist heute in Litauen mehr verbreitet, Deutsch sprechen nur wenige und wenn, dann recht gut.

Im Frühjahr 1951 wurde die Nachricht verbreitet, alle Deutschen sollten sich in Jurbarkas zur Ausreise nach Deutschland melden. Meine Schwester kam zu mir und brachte mir nahe, dass ich mich auch melden sollte. Ich hatte große Angst, denn jetzt hatte ich eine häusliche Bleibe. Niemand wusste, was nun noch kommen könnte - eine Falle, Arbeitslager in Russland?

In dieser Zeit begann in Litauen die Kollektivierung der Landwirtschaft. Die Bauern wurden mit teils drastischen Methoden zum Eintritt in die Kolchose gezwungen, da gab es immer weniger Platz für die Deutschen, die sich illegal in Litauen aufhielten und bei den Bauern arbeiteten. Diese sich abzeichnende Situation hatte auf meinen Entschluss, mich auch zu melden, keinen Einfluss.

Die Eheleute Greičius waren zwar einsichtig, aber über meine Entscheidung sehr enttäuscht und innerlich verärgert. Sie hatten so viel für mich getan und sicher große Erwartungen in ihre und meine Zukunft gesetzt. Der Bauer gab mir warme Kleidung, die Schafpelzjacke, ein Stück Wollstoff, eine ganze Speckseite sowie etwas Geld mit auf den Weg. Menschlich war dies eine schwierige Situation, eine Tragödie. Wir haben kaum noch miteinander gesprochen - der Abschied war kurz. Ich kann mich nicht erinnern, wer mich mit dem Pferdewagen nach Jurkarbas gefahren hat.

In Jurkarbas wurden wir registriert und in Lastkähne auf der Memel verladen, die Ladeluken wurden verschlossen und die Fahrt ging ohne jegliche Ankündigung nach Kaunas. Dort wurden wir in einer Turnhalle oder Ähnlichem untergebracht, die wir nicht verlassen konnten. Hier waren sanitäre Anlagen vorhanden. Ich bekam zum Teil neue Kleidung. Danach wurden wir in Güterwaggons verladen und im Dunklen begann die Fahrt in Richtung Westen, nach Insterburg. Außerhalb des Bahnhofes in Sichtweite der Stadt mussten wir den Zug verlassen und eine Zeit in einer Art Ferch im Freien verbringen, bis wir schließlich in ordentlichen D-Zugwagen weitergefahren wurden. Nach einer mehr als einwöchigen Fahrt durch Polen sind wir über Frankfurt (Oder) am 13. Mai 1951 im Quarantänelager Bischofswerda/Sachsen angekommen.

Das Schicksal der Eheleute Greičius ist mir nicht bekannt. Die Verbindungen sind abgebrochen, Briefe sind vielleicht nicht angekommen oder sie wurden nicht beantwortet. Im Sommer 2004 bin ich über Šmalininkai und Jurbarkas in diese Gegend gefahren. Der Charakter dieser Landschaft hat sich nicht verändert und ist unverwechselbar. Die Höfe von Greičius und Gudas gibt es noch. Eine Frau sagte mir, dass Kl. Greičius dort in Litauen verstorben und nicht, wie viele andere litauische Bauern nach Sibirien verschleppt worden sei. Es leben noch mehrere Personen mit den Namen Greičius und Gudas in diesen Dörfern. Diese Höfe habe ich nicht aufgesucht, denn es leben dort andere Menschen, zu denen ich keine Beziehungen habe.

Die litauischen Bauernhöfe durchschnittlicher Größe bestanden aus einem nach Süden ausgerichteten Wohnhaus, das in einen Winterteil und einen Sommerteil gegliedert war, einem Stall für Großvieh, einer Scheune, einem Gebäude für Kleinvieh verbunden mit einem Kartoffellager, Milchlagerraum, Sommerküche u. ä. und einem freistehenden Getreidespeicher (Kleté).

Vieles hat sich aus meiner Sicht verändert: einige Höfe sind nicht mehr vorhanden, die zuvor beschriebene Form der Höfe ist selten zu finden, die Gebäude sind mit Wellasbest und nicht mehr mit Schindeln oder Stroh eingedeckt, vereinzelt sind neue Siedlungen entstanden, verlassene Kolchos-Anlagen verunstalten die Landschaft. Zum anderen haben anscheinend alle Höfe Stromanschluss, die wichtigsten Verbindungsstraßen sind neu angelegt und ausgebaut, Brücken über die vielen kleinen Flüsse sind errichtet und Kraftfahrzeuge sind das Hauptverkehrsmittel. Auffallend ist aber, dass die Felder kaum bestellt sind und dass die traditionelle Heuernte nicht stattfindet. Damals hat jeder Bauer seine kleinen Felder zur Selbstversorgung so gut es ging bestellt. Diese ursprüngliche Landwirtschaft gibt es nicht mehr, die Kolchosen sind größtenteils aufgelöst und die Bauern haben ihr Land zurückerhalten. Wo sind das Vieh und die Maschinen geblieben? Eine moderne Landwirtschaft ist, zumindest in dieser bereisten Region, nicht in Sicht. Das Moderne und das Bestreben nach westlichem Niveau ist hauptsächlich in den Städten zu erkennen.

Meine Reise nach Litauen verlief ohne bemerkenswerte Probleme. Ist es nur die Reiselust oder vielleicht der innere Trieb, meine Vergangenheit zu erkunden? Mir kam es darauf an, nochmals einen Eindruck von dieser Gegend zu gewinnen. Mit diesem Text möchte ich versuchen, anderen meine Erlebnisse in der Nachkriegszeit und die Eindrücke über Litauen zu vermitteln. Dokumente oder Aufzeichnungen aus dieser Zeit nach dem Krieg gibt es kaum.

Das heutige, aufstrebende Litauen kann viel Schönes und Interessantes vorweisen.
Der litauische Künstler Eduardas Jonušas schreibt: "Schön bist Du, Litauen, verziert mit Wäldern und Seen."
gez. Gustav Bense


In diesem Zusammenhang weist Herr B. auf das Buch „Wolfskinder“ [12] von Ruth Leiserowitz (geb. Kibelka) [4] hin.
Gustav Bense sagt von sich:
„Einige Passagen habe ich so erlebt, andere weitaus nicht – so unterschiedlich sind die persönlichen Eindrücke.
Ich selbst zähle mich nicht zu den Wolfskindern. Ich war auch elternlos und wurde von litauischen Bauern aufgenommen,
aber ich hatte meinen Namen und kannte meine Herkunft.“

Anmerkungen zu Haselberg

Ich bin mir nicht ganz sicher, ob 1945 die Kleinbahngleise noch gelegen haben, später waren sie weg. Die Bahngleise Schloßberg-Tilsit(?) lagen noch, aber zerstört durch „Schwellenaufreißer“, Züge fuhren nicht. Die Stahlbrücke [13] über die Scheschuppe [14] war gesprengt und lag eingeknickt im Fluß.

Ob die Behelfs-Holzbrücke [15] über die Scheschuppe im Herbst 1945 noch stand, weiß ich nicht. Eine Zeitzeugin, die 1946 als 16-jähriges Mädchen unter den Russen arbeitete und ein Pferdefuhrwerk lenken musste, sagte mir, dass es keine Brücke gab, denn sie musste öfters durch die Scheschuppe unterhalb des Wehres fahren, was nicht ungefährlich war.

Im Winter ging und fuhr man über das Eis, bei Eisgang ging nichts, im Sommer war oberhalb des Wehres eine Fähre am Seil mit Handbetrieb eingerichtet. Fahrzeuge, auch Pferdegespanne mussten unterhalb des Wehres auf einer Sandbank (Furt) fahren. Die neue Betonbrücke ist 1986 eingeweiht worden, s. Gedenkstein. Die Kirche auf der anderen Seite des Flusses hatte einen Volltreffer im Dach des Kirchenschiffes abbekommen, an den Zustand des Turmes kann ich mich nicht erinnern. Die Wasserkraftmühle war zerstört, im Graben lagen große eiserne Zahnräder. Das Wehr war nicht zerstört und die Scheschuppe war aufgestaut.

Die Russische Kommandantur war an der zentralen Kreuzung, ein ehemaliges Juweliergeschäft(?). Der Tresorraum (Anbau) diente als Gefängnis.

Das neue Verwaltungsgebäude war damals noch nicht errichtet.

Der Adler auf dem Denkmal war durch Schüsse durchlöchert - das Denkmal stand aber noch.

Viele Gebäude, die 1945/46 noch standen und benutzbar waren, sind nicht mehr vorhanden, so auch das kleine Haus im Hinterhof, in dem wir wohnten. 1946 wurden verstärkt russische Zivilisten angesiedelt, es wurde eine russische Schule in Haselberg eingerichtet, eine deutsche Schule gab es nicht.

Weblinks und Fußnoten

  1. Sovchose auch Sowchose, russ.: cobхоз = staatlicher Landwirtschaftsbetr
  2. Das Insthaus (Nr.5) gehörte zum Hof Gustav Siemoneit und wurde 1925 erbaut. Das Haus östlich davor war das ehemalige Schulhaus (Nr.6), siehe auch Ortsplan von Meißnersrode
  3. Gehöft Gustav Siemoneit, das Wohnhaus 1922 erbaut, Schweine- und Hühnerstall mit Speicher 1924 erbaut, siehe Schulchronik Jucknaten/Meißnersrode Zeitgeschichte_der_Schule_Jucknaten_/_Meißnersrode
  4. Am 7. Mai 1939 lebten 221 Personen in Meißnersrode, siehe Zusammenstellung von 1890 bis 1939
  5. Schmalleningken-Augstogallen (1862 - 1939), Šmalininkai (1923 -), Schmalleningken (1939 -)
  6. Jurbarkas, Artikel Jurbarkas. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. (22.04.2013)
  7. Luftlinie Meißnersrode - Šmalininkai ca. 14 km
  8. Getreidespeicher
  9. stribiai auch „Stribben“ genannt, waren eine russisch- litauische Miliz, russ.: „istrebitel“ = ucmpeбumeл heißt „Vernichter“, die zum Kampfgegen die Partisanen ausgerichtet waren
  10. Komjaunuõliai, lit.: jaunuŏlis = Junge, Jüngling; die aus Litauern bestehenden Jungkommunisten
  11. Antkalniškai auch Antakalniškiai geschrieben, ca. 30 km östlich von Jurbarkas
  12. Im vorliegenden Band zeichnet Ruth Kibelka das Schicksal ostpreußischer Kinder auf, die während der sowjetischen Besetzung zu Waisen wurden. Nicht nur die Archive Kaliningrads und Litauens werden hier erstmals ausgewertet - auch viele Überlebende sprechen zum ersten Mal seit 1944 über ihre Geschichte.
  13. Erbaut 1924, Schulchronik
  14. Scheschuppe = Szeszuppe = Szeschuppe = Ostfluss (linker Nebenfluss der Memel)
  15. Briefwechsel von Febr. u. Nov. 2011; die Behelfsbrücke für Schwertransporte wurde im Sommer 1941 stromaufwärts, unmittelbar neben der Stahlbrücke von einer Pioniereinheit aufgebaut. Nach Augenzeugenbericht, hat sie im August 1945 noch gestanden und ist danach wohl abgebaut worden.