Drachensteigen in Schmelz
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Mit dem Herbst kam auch der Wind. Und wo der Wind war, schaukelten in Schmelz Drachen am Himmel. Jede Menge Drachen und in vielfältiger Gestalt: Da waren in der Mehrzahl primitive viereckige Drachen, entweder rechteckig, quadratisch oder in verschiedenen Dreieckskombinationen. Dann kamen die kreisrunden und sechseckigen, hin und wieder sogar achteckigen. Schließlich hingen auch "Exoten" in der Luft, zum Beispiel Kastendrachen oder "Minis".
Alle nur vorstellbaren Farben bildeten fröhliche Farbtupfer am Schmelzer Himmel. Farbe, Länge und Form der Drachenschwänze ließen die Phantasie der Drachenbauer erkennen. Und alle Drachen waren selbst gebaut! Gekauft, wie das heute möglich ist, war nicht ein einziger! Leisten aus Holz konnte sich jeder besorgen, ebenso Papier. Als Kleber wurden gekochte Pellkartoffeln verwendet, die über die Papierränder gestrichen wurden. Das hielt prima!
Auch die Schnur, an der die Drachen in die Lüfte stiegen, war von unterschiedlicher Güte. Für die Minis wurde nur Zwirn benötigt. Einige Drachenbauer nahmen Angelsehnen, die stark und nahezu unsichtbar waren. Andere benutzten schön kräftige Aalschnur, die sie vom Großvater bekommen hatten.
Und dann ging's los! Die Schnur wurde etwa 30 bis 40 Meter ausgerollt. Einer hielt den Drachen gegen den Wind und ließ ihn auf Kommando los, wenn der "Schnurhalter" zu laufen begann. Erst wenn der Drachen oben gut gegen den Wind stand, wurde noch mehr Schnur gegeben, bis das Schnurende erreicht war. Dann schwebte der Drachen aber schon hoch oben, fast bei den Wolken, meinten wir. Der Stab, an dem die Drachenschnur befestigt war, konnte dann getrost schräg in den Erdboden gesteckt oder in den Händen gehalten werden. Der Drachen blieb oben! Es sei denn, der Wind machte mal Pause. Dann hieß es gegen den Wind laufen, um den Drachen in der Höhe zu halten. Meistens war aber genügend Wind da, so daß der Drachen oben am Himmel stand. Dann wurden Zettel, sogenannte Briefchen, zu ihm hinaufgeschickt. Hat das Spaß gemacht!
Oft waren wir Buben neidisch, wenn irgendein Junge eine neue, für uns noch nicht dagewesene Kreation eines Drachens steigen ließ. Scheinheilig erboten wir uns dann, das neue Modell in der Nähe unseres Gartens in der Kiesgrube gegen den Wind halten zu wollen. Oft genug ließ sich der andere auch darauf ein. Er rollte seine Schnur ab, und gleichzeitig mit dem "Lauf-Kommando" schnitten wir Lorbasse rasch den Drachen von der Schnur ab und rannten mit unserer Beute in Richtung Kirschgarten. Wenn der Drachenbesitzer unsere hinterlistige Tat bemerkte, war es meist zu spät. Wir waren dann schon mit unserem "Beutegut" im Garten verschwunden, wenn der an dem Zaun anlangte.
Es ging dann aber nicht darum, daß wir den fremden Drachen behalten wollten. Wir wollten nur in Ruhe seine "Machart" herausbekommen. Deshalb bekam der "Bestohlene" meist kurz darauf seinen entführten Drachen mit einer kleinen Versöhnungsgabe unversehrt wieder zurück. Am nächsten Tag war dann aber in vielen Fällen das "neue Modell" mehrfach am Himmel zu sehen! Mit so einem "Ideenklau" mußte jeder rechnen, der etwas Neues im Drachenbau brachte. Vorsicht war daher dann immer am Platze.
Wenn der Wind besonders stark von See her blies, wurde bei einem extragroßen Drachen an das Schnurende ein Blecheimer, ja, ein richtiger Eimer!,gefüllt mit Steinen, gebunden. Der Drachen zog die Last durch die gesamte Länge der Kiesgrube. Für uns Bowkes galt es dann, am Ende der Grube den Eimer abzufangen und einen neuen "Lastentransport" vom Anfang der Kiesgrube in Gang zu setzen. Das war eine nicht ganz leichte - und auch nicht ganz ungefährliche - Angelegenheit.
Egal, wie wir's machten, das Drachensteigen in Schmelz hat uns Bowkes damals in jedem Herbst viel Spaß gemacht.
Mit freundlicher Genehmigung entnommen aus dem Buch: Trautes Memelland - glückliche Kinderzeit von Gerhard Krosien