Deutsche und französische Kultur im Elsass/070

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Deutsche und französische Kultur im Elsass
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Bildunterschrift:
P. Braunagel: Elsässer Typus.

die ja auch in der Hauptsache auf der Schule erworben wird, auf einem methodisch überlieferten Wissen, auf ebenso dargebotenen fertigen Urteilen und auf der methodischen Anleitung zu Urteilen, die kraft des Wissens gefällt werden. Die durch Tradition erworbene Geistesbildung schöpft ihr Wissen, Urteil und Urteilsfähigkeit aus gelegentlichen Überlieferungen aller Art, aus Anschauung und Erfahrung, kurz aus dem täglichen Leben, das zwar nicht methodisch, aber nichtsdestoweniger erfolgreich den Menschen belehrt. Die Schulbildung vermittelt nun in viel höherem Masse als die Tradition Kenntnisse als solche. Daher besteht die deutsche Geistesbildung ebenso wie die Gelehrsamkeit in erster Linie aus einem weitverbreiteten Wissen und einem starken Wissenstrieb. Man sucht seine Kenntnisse dauernd zu erweitern und über immer fremdere Verhältnisse ein Urteil zu erlangen. Das Wissen steht im höchsten Ansehen, es wird oft mit der Geistesbildung geradezu identifiziert. So ist die deutsche Geistesbildung eigentlich ein Stück Gelehrsamkeit, das wie diese auf der Schule erworben worden ist, und dessen wertvollste Bestandteile ein ausgebreitetes Wissen und ein starker Wissenstrieb bilden.

Bei der französischen Geisteskultur liegt der Nachdruck weniger auf den Kenntnissen, die ja mehr lückenhaft und ungeordnet in der Hauptsache durch Erfahrung und Anschauung erworben werden. Aber dieses beschränkte Wissen wird mit einer grossen natürlichen Urteilskraft, dem bon sens, und einer unübertrefflichen Klarheit der Begriffsbildung, die in der Hauptsache der Sprache zu verdanken ist, beherrscht.

Der Einfluss der schulmässigen und gelehrten Geistesbildung auf das Leben der deutschen Nation ist unermesslich. Der Held der grössten deutschen Dichtung, der Faust Goethes, ist das Urbild dieses schulmässig gebildeten, gelehrten deutschen Mannes, der mit Hülfe des Teufels aus den Fesseln des gelehrten Lebens und Denkens in die Freiheit der Abenteuer und des werktätigen Schaffens entrinnt. Auch den grössten Geistern der Nation haftet der gelehrte, oft doktrinäre Zug als untrennbarer Bestandteil ihrer Eigenart an. Goethe und Schiller, Moltke und Karl Marx sind prägnante Beispiele, aber auch Richard Wagner war nicht frei davon. Bismarck war ebensowenig wie Goethe doktrinär, aber aus seinen Reden und Briefen leuchtet ein gewaltiges Wissen hervor, und in seinen nachgelassenen Gedanken und Erinnerungen nimmt die philosophische Betrachtung der Menschen, der Völker und ihrer Institutionen einen überraschend grossen Platz ein.

Aber auch ganze Berufsklassen des Volkes werden in ihrer Qualität durch die schulmässige und gelehrte Geistesbildung wesentlich beeinflusst. Ich erinnere an die Bureaukratie und das Offizierkorps, deren fachliche Vorzüge sogar auf ihre schulmässige Geistesbildung zurückgeführt werden. Man macht daher, abgesehen von aller technischen Berufsvorbereitung, ein gewisses Mass schulmässiger Geistesbildung zur notwendigen Vorbedingung für den Zutritt zu diesen Berufen. Diese hohe Wertung der schulmässigen Geistesbildung fehlt den übrigen Nationen. Wenn sie, wie die Franzosen heute, ähnliche Anforderungen stellen, so ist es eine ganz neuartige Nachahmung deutscher Einrichtungen. Aber auch die wichtigsten Bestandteile der deutschen Kultur haben aus dieser schulmässigen Geistesbildung die grösste Förderung empfangen. Unschätzbaren Gewinn hat die Wissenschaft von ihr gehabt. Denn die zur Gelehrsamkeit Auserwählten erhielten die denkbar beste Vorbildung, und die ganze Nation wurde zur Empfänglichkeit für die Wissenschaft und zur Achtung und Förderung aller wissenschaftlichen Bestrebungen erzogen.