Deegeln/Erinnerungen Schule
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Mein Heimatort Deegeln liegt im Kreis Memel an der Aysse. Er ist eingebettelt zwischen der Aschpurwer und der Bliematzer Staatsforst. Da er hart an der litauischen Grenze liegt, -sollte man annehmen, daß er verkehrsmäßig schlecht zu erreichen ist. Tatsächlich war aber das Verkehrsnetz im Memelland so gut ausgebaut, daß jeder Ort günstige Verbindungen zu den Nachbarorten und zur Kreisstadt aufwies. Eisenbahnstation ist Wilkieten, von wo man auf der Chaussee nach Gut und Krug Ayssehnen und dann auf guter Kiesstraße nach Deegeln kommt. Man konnte früher aber auch die Kleinbahn von Memel nach Pöszeiten nehmen und von Pöszeiten entweder auf einer festen Kiesstraße oder auf einer Sandstraße über Dwielen nach Deegeln gelangen. Die Verbindung zur Wannagger Kirche führte durch den Aschpurwer Wald. Wem der sonntägliche Gottesdienstbesuch nicht ausreichte, der fand sich bei Landwirt Karallus zu den Gebetversammlungen der Surinkimininker ein. Wer Auskünfte wollte, ging zum unweit der Schule wohnenden Bürgenmeister Martin Paltins, der mehrere Jahre bis 1939 die Gemeindegeschäfte leitete. An den Landwirtschaften von Kawohl (Piklaps) und Makies vorbei gelangt man zum Deegelner Friedhof, der ebenfalb dicht an der Aysse liegt. Wendet man sich dagegen von der Schule in Richtung Ayssehnen, so kommt man an der Kiesgrube und Ziegelei Stubra vorbei.
Wanderte man bis zur Ayssebrücke bei Gut Aschpurwen, so blickte man über den Ort Dwielen bis zur Windmühle Klimkeit. Auf Schulwanderungen kamen wir auch an die ehemalige Grenzübergangsstelle nach Wewirszany, wo das Gasthaus des Landwirts Grauduschus stand. Von hier war es nicht weit durch Pöszeiten zur dortigen Schule, wo es einen Festplatz für Schulfeiern auf dem Koppelgelände von Grauduschus gab.
Die Schule Deegeln wurde nicht nur von Kindern der Gemeinde besucht. Schüler kamen auch vom Gut Aschpurwen der Familie Kämmerer, von den Dörfern Dwielen und Stoneiten und sogar aus deutschen Familien von jenseits der Grenze. Der Schulweg betrug bis zu drei und vier Kilometer, in Ausnahmefällen bis zu fünf Kilometer. Im Sommer und im Herbst war das eine Strecke, die man sogar den Schulanfängern zumuten konnte. Während der langen Wintermonate jedoch wurde selbst für größere Schüler der Schulweg bei Schnee und Kälte ein Problem. So hatten sich immer mehrere Nachbarn zusammen, und einer von ihnen fuhr dann die Kinder mit dem Schlitten nach Deegeln. Schlechter hatten es noch die zwei Familien aus Litauen, die ihre Kinder in unsere Schule schickten. Ich erinnere mich gut an den Schüler Ritter, der, aus Litauen kommend, die deutsche Muttersprache hatte.
Die Sprachenfrage war im Memelland ein leidiges Problem. In den Bauernhäusern wurde noch viel das memelländische Litauisch gesprochen, und doch setzten sich alle Eltern für die deutsche Unterrichtssprache ein. Anfang der dreißiger Jahre, zu meiner Schulzeit, Setzte der Litauisierungsversuch mit voller Härte ein. Unser damaliger Lehrer Bajorat konnte kaum Litauisch sprechen. Daher wurde er besonders oft und gründlich vom litauischen Schulrat, der meist in Begleitung einer anderen Amtsperson erschien, visitiert. Die Herren tauchten auf, ohne sich angemeldet zu haben. So platzten sie auch einmal in eine Erdkundestunde, und es gab vor uns Kindern eine lautstarke Auseinandersetzung, warum Bajorat uns in der Erdkunde von Deutschland und nicht von Litauen lernen lasse. Der Schulrat holte eigenhändig die Landkarte von Deutschland vom Kartenständer, rollte sie zusammen und nahm sie mit. Uns Kindern standen die Tränen in den Augen, denn für uns war eine Landkarte mehr als ein Stück bunter Leinwand. Man hatte uns unser Vaterland entwendet, und wir konnten uns lange über den Verlust nicht trösten. Lehrer Bajorat mußte in den Jahren 1934-36 Deegeln verlassen. Sein Nachfolger war Lehrer Trakis, der das Litauische gut beherrschte, den wir Schüler meines Jahrganges jedoch nur kurze Zeit bis zur Entlassung hatten.
Für mich aber ist die Schulzeit mit Lehrer Bajorat verbunden. Er war streng und sah auf gute Ordnung. Wir mußten bei ihm tüchtig lernen und danken ihm noch heute dafür. Die Motorisierung steckte in den zwanziger Jahren auf dem Lande noch in den Kinderschuhen. Daher war es eine kleine Sensation, daß Bajorat ein Zweisitzer-Motorrad besaß. Er war damit schnell in Memel, und wenn die Lehrer gelegentlich gemütlich zusammenkamen, kehrte er bestimmt mit einigen Promille zuviel nach Deegeln zurück. Das nahm damals noch niemand krumm, und wenn Bajorat in der Dunkelheit nicht die Kurve bekam und im Straßengraben landete, war das seine Privatsache. Er wankte dann die restliche Wegstrecke zu Fuß nach Hause, und am nächsten Morgen mobilisierte er vor Schulbeginn uns größere Jungs, sein Motorrad aus dem Graben zu holen. Wir hüteten uns, irgendwelche respektlosen Bemerkungen zu machen, denn mit einem unausgeschlafenen, verkaterten Lehrer war nicht gut Kirschen essen. An solchen Vormittagen waren alle besonders leise und eifrig, um nicht seinen Zorn zu wecken. Brummte er uns Strafarbeiten auf, dann mußten wir diese nach der Schule in seiner Anwesenheit in der Klasse erledigen.
Im Schulgebäude gab es zwei Klassen und zwei Lehrerwohnungen. Die Schule stand fünfzig Meter von der Straße entfernt, den Giebel zur Straße gekehrt. Unmittelbar am Ufer der Aysse stand das Wirtschaftsgebäude mit Stall und Scheune unter einem Dach. An dem einen Ende waren die Toiletten angebaut, am anderen Ende der Holzschuppen. Von der Schule bis zur Straße sowie hinter der Schule bis zur Aysse hatte der Lehrer einen beträchtlichen Obstbestand. Der Garten war mit einem massiven, geteerten Lattenzaun eingefaßt, an dessen Innenseite große Haselnußbüsche und Edelhagebutten das Übersteigen erschwerten, wenn auch niemals ganz unmöglich machten. Waren im Herbst die Haselnüsse reif, so suchten wir die Zaunfront von draußen nach heruntergefallenen Nüssen ab. Wer sich beim Schütteln der Büsche erwischen ließ, mußte sich eigenhändig einen Haselstecken schneiden, mit dem ihm der Hosenboden versohlt wurde. Wehe dem Schlaumeier, der einen Stecken mit Ast brachte! Der zerbrach nämlich leicht, und dann gab es die doppelte Menge Hiebe. Da war dann auch die schmutzigste Hose ausgestaubt!
War das Obst reif, dann landete öfters mal unser Ball in Lehrers Garten, ob es der kleine Schlagball oder der große Völkerball war. Dann mußte man rasch über den Zaun klettern, um den Ball zu holen. Man sah, ob die Luft rein war und steckte sich die Taschen mit dem reifen Tafelobst voll, das verlockend unter den Bäumen lag. Die Beute wurde dann unter den Mitspielern verteilt. Ich kann jedoch versichern, daß uns dieser Beutezug nur selten gelang, weil die Lehrer in der Pause auf dem Spielplatz promenierten und uns ständig unter Augen hatten.
Zum Schulgrundstück gehörten auch einige Morgen Land, Acker und Weide. Der Hauptlehrer hielt sich eine Kuh, einige Schweine, Geflügel und natürlich Hund und Katze. Ein Jahr hatte Bajorat anschließend an den Spielplatz Getreide angebaut. Wenngleich es streng verboten war, in das Kornfeld zu gehen, passierte es doch fast täglich einige Male, daß ein Ball im Getreide landete, Unser Spieltemperament war stärker als alle Ermahnungen, alle Aufsicht und selbst alle Schläge. Die Fußspuren im Kornfeld wurden immer dichter, und der Lehrer kapitulierte und baute in den folgenden Jähen auf diesem Acker Klee, Kartoffeln oder Rüben an. Zu meiner Zeit war Schlagball der beliebteste Zeitvertreib. Wenn sich die beiden feindlichen Gruppen ein spannendes Kopf-an-Kopf-Rennen lieferten, schlugen Eifer und Begeisterung hohe Wogen. Es gab eine Angreifer- und eine Verteidigerpartei. Die Angreifer schlugen den Ball mit Hilfe eines Schlägers weit in das Spielfeld. Zugleich mußten sie über das Feld bis zu einem Mal (hier dem großen Turnstangengerüst) laufen, dort anschlagen und wieder zurückjagen. Inzwischen hatten die Verteidiger den Ball gefangen und suchten möglichst viele der Angreifer durch Balltreffer abzuschießen. Man mußte flink wie ein Wiesel sein, um den Ring der Verteidiger ohne Treffer zu durchbrechen. Man sprang in die Höhe oder warf sich zu Boden. Man beugte sich nach vorn oder rückwärts, um dem Ball zu entgehen. Nur derjenige Schüler brachte seiner Mannschaft einen Punkt, der nicht getroffen worden war. Wurde ein Spieler mit dem Ball getroffen, so wechselten die Parteien ihre Rollen.
Eines Tages wurde im Eifer des Gefechtes die Kuh des Lehrers vom Schlagball getroffen, der mir gegolten hatte. Sie war ganz in der Nähe am Spielfeldrand angepflockt und begann vor Schreck wie wild zu galoppieren. Ehe wir uns besonnen «hatten, verschwand sie mit dem Pfahl und der Kette in Richtung Aysse. In diesem Augenblick kam Bajorat 'heraus und pfiff die Pause ab. Einer der Schüler sagte zu ihm: „Herr Lehrer, Ihre Kuh ist durchgebrannt. Wahrscheinlich ist sie von Bremsen gestochen worden." Uns verschlug es die Sprache, und mir klopfte das Herz im Halse, als der Lehrer gerade mir den Auftrag gab, die Kuh zu suchen und in den Stall zu führen. Erst viel später erfuhr Bajorat, was es mit den Bremsen auf sich gehabt hatte. Er sagte lachend: „Da habt ihr mal Schwein gehabt, daß ich nicht am selben Tag den wahren Grund erfuhr! Ich häute euch allen die Hosen stramm gezogen!"
Wurde Schlagball gespielt, so mußten die Fensterladen der Klassenzimmer geschlossen werden. Bajorat wußte, wie gefährlich unsere Spielleidenschaft war. Und so passierte es eines Tages, daß der harte Ball zwar nicht in ein Klassenzimmer, wohl aber durch die Scheibe in Lehrers Küche krachte, genau in die Bratpfanne hinein. Wir hörten das Scheppern der Scheibe und den Aufschrei der Frau Lehrer. Da saßen wir auch schon wie Unschuldsengel in unseren Bänken, ohne daß jemand die Pause abgepfiffen hätte. Bajorat kam hochrot »in die Klasse gestürzt und schrie: „Die Lorbasse, die die Scheibe eingeworfen haben, treten vor!" Aber die Lorbasse hatten Angst und dachten nicht daran. So mußte er uns einzeln vorholen, und jeder bekam sein Fett ab. Die Haselstecken, die auf Vorrat bereit lagen, waren trocken und brüchig und brachen einer nach dem anderen. Schließlich mußte noch der Zeigestock daran glauben.
Alljährlich fand kurz vor den Sommerferien ein Schulfest statt, zu dem auch Schulen aus der weiteren Umgebung erschienen, so aus Stankeiten, Wannaggen und manchmal auch aus Aglohnen. Die Wiese des Land- und Gastwirtes Grauduschus war der Schauplatz. Die Klassen wurden zum Teil in mit Birkengrün und Papiergirlanden geschmückten Heuwagen herangefahren, in die man Sitzbretter gezogen hatte.
Im Mittelpunkt des Festes standen die Wettkämpfe im Schlagballspiel (für Jungen) und im Völkerball (für Mädchen). Es gab Wettlaufen und Weitsprung und andere Disziplinen. Die Lehrer wetteiferten auf einem Stand im Kleinkaliberschießen.
Grauduschus stellte seine Wiese natürlich nicht uneigennützig zur Verfügung. Er hatte einen Erfrischungsstand aufgebaut, und hier drängten sich die Kinder, um Limonade, Kekse oder Bonbons zu kaufen. Für Lehrer und andere Erwachsene gab es auch Bier und härtere Getränke. Als ich nach Schulschluß bei Grauduschus als Lehrling eintrat, mußte ich auch den Erfrischungsstand betreuen. Zum Abschluß des Festes trafen sich die Klassen im Saale Preuß, wo gemeinsam Volks- und Heimatlieder gesungen wurden. Ausgelassen und abgespannt traten die Schulen am Abend den Heimweg an.