Belzig/Rektoren/Kern
Beschreibung des Rektors Kern über seine Arbeit in Belzig
Im Herbste des Jahres 1814 verließ ich Leipzig und ging als Hauslehrer nach Belzig, einer sonst sächsischen Stadt, die jetzt zum Regierungsbezirk Potsdam gehört. Einige Bekannte begleiteten mich bis zu einem benachbarten Dorfe. Als ich, von ihnen verlassen, meinen Weg weiter verfolgte, wurde ich in eine ungewöhnlich feierliche Stimmung versetzt. Ich dachte ernst an die Zukunft und sagte mir, dass es nun Zeit sei, zum allgemeinen Besten nach Kräften zu wirken. Tiefer als je zuvor fühlte ich die Lücken, die ich, um wirklich nützen zu können, noch auszufüllen hatte, und gelobte mir, einen rastlosen Fleiß zu beweisen, um mich möglichst zu vervollkommnen, und den Pflichten, die mir mein Wirkungskreis auferlegen würde, bestens nachzukommen. Und dieses Gelübde denke ich von jener Zeit an redlich gehalten zu haben.
Ich trat in Belzig den 14. Oktober ein. Es wurden mir die Söhne von drei Familien, fünf an der Zahl, übergeben. Sie standen in einem Alter von 7 bis 14 Jahren, und wollten sich teils höheren bürgerlichen Berufsarten, teils den Studien widmen.
Mein erstes Geschäft musste es sein, mich mit mehreren Wissenschaften, die ich zu lehren hatte, erst selbst gehörig vertraut zu machen, da ich durch den früheren Schulunterricht keine genügenden Kenntnisse darin erlangt hatte. Als ich ziemlich ein Jahr Hauslehrer war, wurde ich zum Mädchenlehrer in Wittenberg ernannt, nachdem ich vorher eine Probe daselbst abgelegt hatte. Auf den Rat mehrerer achtbaren Männer in Belzig gab ich die Stelle aber wieder auf.
Im zweiten Jahre meines Hauslehrerlebens konnte ich mich, da die Bekanntmachung mit dem Lehrstoffe meine Zeit weniger in Anspruch nahm, mehr mit dem Studium pädagogischer Werke beschäftigen. Ich studierte Campe's, Salzmann's und Pestalozzis Schriften sehr angelegentlich. Die Methode des Letztgenannten interessierte mich ungemein, und ich war ernstlich bemüht, mich mit ihr vertraut zu machen. Noch heute huldige ich dem Geiste dieser Methode; aber das ist mir in der Praxis denn doch bald klar geworden, dass man, wenn man für's Leben bilden will, sie nicht dem Buchstaben nach befolgen darf.
Je mehr ich mich diesem Studium Hingab, desto fester wurde der Vorsatz in mir, mich dem Erziehungsfache ganz zu widmen, weshalb ich mich auch um die erledigte Rektorstelle zu B. bewarb. Sie wurde mir nach abgelegter Probe zu Teil. Nachdem ich die vorschriftsmäßige Prüfung bestanden, trat ich im Oktober 1816 die neue Laufbahn an.
Die Klasse, in der ich nun als Lehrer wirken sollte, war in keiner guten Verfassung, weder in Betreff ihrer Leistungen, noch in Hinsicht auf ihre Zucht. Mein Vorgänger, der eine lange Reihe von Jahren Rektor gewesen, war nichts weniger als Pädagoge. Die bessern Unterrichtsmethoden kannte er gar nicht; eben so wenig vermochte er eine gehörige Disziplin zu handhaben. Schon seine Persönlichkeit und sein vorgerücktes Alter traten ihm dabei hindernd in den Weg.
Die von ihm nach dem alten Schlendrian gebildeten Schüler, zu der ich noch die Hälfte der zweiten Klasse bekam, da deren Lehrer bei meinem Antritt wegen bedeutender Schwerhörigkeit, an der er schon lange gelitten, vom Unterrichte dispensiert wurde, auf eine höhere Stufe zu bringen, war die mir gestellte Aufgabe. Dass ihre Lösung eben nicht leicht war, brauche ich wohl nicht zu sagen, und ich trat nicht ohne Besorgnis mein Amt an. Indessen, es ging besser, als ich selbst gedacht hatte. Die Mehrzahl der Bewohner war mir zugetan und wünschte dringend eine bessere Schulverfassung. Das kam mir sehr zu Statten. Auch der Superintendent, ein Mann, der sich durch seine Gelehrsamkeit und durch sein kräftiges Auftreten Ansehn zu verschaffen wußte, erleichterte mir mein Geschäft, indem er, trotz dem, dass er meine Ansichten, wegen eines von ihm gehegten Vorurteils gegen alles Neuere, oft nicht teilte, mir doch freie Hand ließ, mich auf mancherlei Weise unterstützte und, wo er wußte und konnte, zu meinem Besten sprach.
Vor Allem musste ich dahin arbeiten, eine bessere Zucht einzuführen und den Schülern Lust zur Schule einzuführen. Ich suchte diese Zwecke zunächst durch freundliche Vorstellungen, durch gehörige Betätigung der Schüler und dadurch, dass ich den Unterricht möglichst interessant zu machen suchte, zu erreichen. Gegen einige besonders ungezogene Knaben, die, durchaus nicht hören wollten, trat ich mit Strenge auf. Wo ich hoffen durfte, dass es fruchten würde, nahm ich auch mit den Ältern Rücksprache. Das Alles bewirkte, dass die Klasse nach Verlauf eines Vierteljahres in einem ganz andern Zustande war. Die Kinder bekamen der Mehrzahl nach Lust zur Schule, fügten sich in die Ordnung und fingen an fleißig zu sein. Was den Unterricht betraf, so musste ich mich in der obersten Klasse in den meisten Gegenständen mit den ersten Elementen beschäftigen, da ich fast nirgends einen gehörigen Grund vorfand.
Um die intensive Bildung zu fördern und den Schülern die nötigen Kenntnisse auf eine leicht fachliche Weise anzueignen, machte ich mancherlei Versuche. Ich griff zu verschiedenen Lehrbüchern, entwarf mir selbst für einige Unterrichtszweige nach gegebenen Anleitungen Lehrgänge, wählte bald diese, bald jene Methode und befolgte überhaupt verschiedene Vorschläge, um den rechten Weg zu finden. Bei manchen Unterrichtszweigen gelang mir dies mehr, bei andern weniger; bei einigen leichter, bei andern schwerer. Dass die Schüler auf diese Art nicht immer den nächsten Weg geführt wurden, ja, dass sie manchen Abweg betreten mussten, leuchtet ein; aber leider ist dies immer der Fall, so oft Leute, die in theoretischer und praktischer Hinsicht keine genügende Vorbereitung zum Schulfach erhalten haben, als Lehrer angestellt werden.
Übrigens ist es heute um Vieles leichter, sich mit dem rechten Wege bekannt zu machen, da wir jetzt keinen Mangel an pädagogischen Werken haben, die zu Führern dienen können.
Ein paar Schriften, die mich in jener Zeit sehr beschäftigten, und denen ich viel zu danken habe, waren: „v. Türk's Leitfaden zur zweckmäßigsten Behandlung des Unterrichts im Rechnen," und dann: „dessen Leitfaden zur Behandlung des Unterrichts in der Formen- und Größenlehre.“ Auch Jos. Schmid's Werke über diese Lehrgegenstände lernte ich damals kennen. Jene durch eine vorzügliche Klarheit sich auszeichnenden Schriften verschafften mir über Vieles Licht, was mir bisher noch dunkel war, und zugleich zeigten sie mir auch die Behandlungsart, die ich zu wählen habe, um den Schülern eine gründliche Einsicht zu verschaffen. Nicht nur auf die in den genannten Werken behandelten Gegenstände hatte das Studium derselben Einfluss, sondern mehr oder weniger auf alle Unterrichtszweige. Mit der Geometrie beschäftigte ich mich schon als Hauslehrer eine Zeitlang, und wählte Vieth's Anfangsgründe zum Lehrbuche; aber es gelang mir nicht, die Sache gehörig zu durchschauen und mit Erfolg darin zu unterrichten. Nachdem ich aber v. Türk's Leitfaden durchgearbeitet hatte, ging es besser. Später haben mir in dieser Hinsicht auch die Werke von Harnisch, Graßmann und Diesterweg, so wie in Bezug auf das Rechnen Kawerau's Leitfaden noch viel genützt.
Um mich in der Katechisirkunst, von der ich in der Leipziger Freischule zuerst einen klaren Begriff bekommen hatte, zu vervollkommnen, studierte ich die katechetischen Unterredungen über religiöse Gegenstände von Dolz und die Unterredungen über die vier letzten Hauptstücke des Luth. Katechismus von Dinter, und ich bekenne es mit Dank, dass mir diese Schriften, nächst den oben genannten von v. Türk, namentlich die erste Anleitung zu einer bessern Behandlung der Unterrichtsgegenstände gegeben haben.
Neben der Beschäftigung mit allem hier Erwähnten studierte ich die Grundsätze der Erziehung und des Unterrichts von Niemeyer und die schon erwähnten Schriften von Pestalozzi, nächstdem auch Mehreres von Natorp, Zerrenner, Harnisch und Schwarz. — Pädagogische Zeitschriften habe ich, so lange ich in Belzig war, fast nicht zu Gesicht bekommen, da von den wenigen, die damals erschienen, keine dorthin kam. Das war offenbar ein großer Nachtheil, indem man so mit dem Neuesten im Gebiete der Pädagogik nicht bekannt wurde.
Während meines Weilens in B. lernte ich auch nicht ohne einigen Nutzen das große Militair-Waisenhaus und das Seminar in Potsdam, so wie die Schulanstalten in Dessau kennen und besuchte die Leipziger Bürgerschule noch einmal.
So wie ich mich als Lehrer auf die oben dargetane Weise allmählich selbst mehr vervollkommnete, so wurden auch die Leistungen meiner Schüler befriedigender. Indessen blieb zur Erreichung einer genügenden Ausbildung doch immer noch Manches in Bezug auf meinen Unterricht zu wünschen übrig. Namentlich war er in manchen Gegenständen nicht elementarisch genug. Ich ging nicht immer da, wo es geschehen konnte und sollte, vom Nahen zum Entfernten, vom Besondern zum Allgemeinen fort, und war in einigen Disziplinen noch zu wenig darauf bedacht, das zu Lehrende durch sinnliche Veranschaulichung deutlich zu machen. Am meisten beging ich diese Fehler in der Geographie und Naturkunde. In der deutschen Sprache erstreckte sich der Unterricht noch zu sehr auf ein totes Formenwesen und führte nicht genug in den Geist der Sprache ein. Im Religionsunterrichte wurde ich durch das Bemühen, Alles katechetisch zu entwickeln, oft zu zeitraubender Weitläufigkeit verleitet. Doch versäumte ich es dabei nicht, durch herzliche Ansprache auf das Gemüt zu wirken. — Diese hier erwähnten Fehler habe ich nur erst nach einem länger fortgesetzten Studium pädagogischer Werke, so wie methodisch bearbeiteter Lehrbücher, und nachdem ich durch mehrjährige Praxis an Erfahrungen reicher geworden, vermeiden lernen. — Viel hat mir in dieser Hinsicht „Denzel's Einleitung in die Erziehungs- und Unterrichtslehre," von der die ersten beiden Teile in jener Zeit erschienen, genützt, und ich kann daher nicht umhin, dieses Werk allen angehenden Lehrern dringend zu empfehlen. Da ich alleiniger Lehrer der ersten Klasse war und folglich den ganzen Unterricht (den Gesang abgerechnet) in derselben besorgen musste: so war ich genötigt, mich mit allen Lehrgegenständen der Elementar-Schule vertraut zu machen, was ohne dies vielleicht nicht geschehen sein möchte. Mithin brachte mir also eine fehlerhafte Einrichtung der Schule (dass sie so genannt werden muss, davon habe ich mich damals genügend überzeugt) Vorteil.
Um die verschiedenen Abteilungen, deren ich in manchen Gegenständen 4 bis 5 hatte, und die namentlich durch Einziehung der zweiten Klasse entstanden, zweckmäßiger beschäftigen zu können: so machte ich einige der besten Schüler zu Gehilfen und ließ durch sie das, was ich einer Abteilung gelehrt hatte, einüben. Dies geschah namentlich im Rechnen, in der deutschen Sprache und Orthographie. Nächstdem ließ ich durch diese Gehilfen auch noch das auswendig Erlernte mit überhören. Auf diese Art wurde es mir möglich, mich jeder einzelnen Abteilung ungestörter hinzugeben. Dies Mittel blieb nicht ohne guten Erfolg; denn die Schüler schritten nach Anwendung desselben rascher vorwärts, und selbst auf die Disziplin hatte es einen vorteilhaften Einfluss. Dies war also eine, freilich noch sehr unvollkommne, Anwendung der so genannten wechselseitigen Schuleinrichtung im Kleinen, lange vor der Zeit, in der an ihre Einführung gedacht worden ist. Auch jetzt lasse ich von diesem Mittel in den untern Klassen einigen Gebrauch machen, indem ich die Seminar-Präparanden, von denen später die Rede sein wird, dazu benutze. Als Rektor hatte ich in B. keinen Einfluss auf die übrigen Klassen, und da sich auch sonst Niemand der spezialen Leitung der Schule unterzog, so bildete sie kein wohl geordnetes Ganze. Es fehlte die Einheit. Möchte man doch diesem Übelstande, der noch heute in so vielen Schulen angetroffen wird und ihr Emporkommen namentlich hindert, endlich einmal abhelfen! . .
Da mit dem Rektorate auch eine Predigerstelle verknüpft war, und ich jeden Sonn- und Festtag, zuweilen sogar zweimal, predigen musste, so konnte ich mich nicht ununterbrochen den pädagogischen Studien hingeben, sondern war auch genötigt, einen Teil meiner ohnehin so beschränkten Zeit auf die Vorbereitung zur Predigt zu verwenden und mich außerdem noch mit manchen theologischen Disziplinen zu beschäftigen, um auch in dieser Beziehung meinem Amte möglichst zu genügen.
Zu allen diesen Arbeiten war meine Zeit kaum ausreichend; denn ich hatte mit den Privatstunden, die ich geben musste, im Winter wöchentlich 42 (da mir zu dieser Zeit der Konfirmanden- Unterricht der Knaben oblag, der täglich in einer Stunde erteilt werden musste) und im Sommer 36 Stunden Unterricht zu geben so dass mir zu meinen Vorbereitungen und anderweitigen Beschäftigungen, zumal im Winter, nur der Abend blieb, und ich oft bis spät in die Nacht hinein arbeiten musste.
Diese überhäufte Arbeit machte, so wohl es mir sonst auch in Belzig ging, den Wunsch in mir rege, eine andere Stelle, in der kein doppeltes Amt zu verwalten sei, zu bekommen, und da ich mich vorzugsweise zum Schulfache hingezogen fühlte, mich auch dazu für tüchtiger hielt, als zum Predigtamte, obwohl mir das Predigen nicht schwer wurde, und meine Vorträge auch Beifall fanden, so entschied ich mich für jenes und ergriff daher gern eine sich mir bald darbietende Gelegenheit zur Erreichung meines Wunsches. Ich wurde nämlich auf den Vorschlag des Herrn Regierungs- und Schulrats v. Türk zum Rektor der neu errichteten Bürgerschule in Jüterbog gewählt.
Den 17. Februar 1819 ging ich von Belzig ab. Die Bewohner jener Stadt sowohl, als meine Schüler, gaben mir in der letzten Zeit noch viele Beweise ihrer Zufriedenheit und Liebe, und noch heute denke ich mit Rührung an die Abschiedsfeierlichkeiten, die man mir zu Ehren veranstaltete.
In Jüterbog war meine Stellung im Anfange eine höchst schwierige. — Bisher hatte die Stadt ein Gymnastum gehabt, das aber so verfallen war, dass es seinem Zwecke gar nicht mehr entsprach. Deshalb wurde dasselbe, da es an Mitteln,gebrach, ihm eine den jetzigen Bedürfnissen entsprechende Einrichtung zu geben, und da es auch in der Umgegend an Gelehrtenschulen nicht fehlte, in eine Bürgerschule verwandelt und zugleich beschlossen, dass kein, Schulgeld gezahlt, sondern dass alle Ortsbewohner nach ihren Verhältnissen zu den Schulbedürfnissen beitragen sollten. Ein kleiner Teil der Einwohner war mit diesen Einrichtungen zufrieden, der bei weitem größere dagegen gar nicht. Die Jugend, bisher teils im Gymnasium, Teils in Winkelschulen von der traurigsten Art gebildet, Teils ohne allen Unterricht aufgewachsen, wollte sich der Mehrheit nach in keine Ordnung fügen und hielt das Meiste, das ihr gelehrt wurde, wie sie oft laut aussprach, für unnütz. Die Direktion der Schule, die ich nach der Äußerung des Schulrats übernehmen sollte, glaubte einerseits der Superintendent sich vorbehalten zu müssen, und andrerseits meinte ein schon bejahrter Lehrer, der früher bei Pestalozzi gewesen war, er sei hierher gesetzt worden, um die Schule zu organisieren. Wirklich wußte er es auch dahin zu bringen, dass Viele, dies glaubend, sich in allen Schulangelegenheiten an ihn wandten.
Unter solchen Umständen war es gewiss, keine leichte Aufgabe, für das Bestehen und Gedeihen dieser neuen Anstalt zu sorgen. Oft sank mir der Mut, und gern wäre ich wieder von hier fort und nach Belzig zurück gegangen.