Begegnung in Pillkallen - mit Sergej dem Sammler, was von uns Deutschen blieb

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Reisebericht

Ein Reisebericht[1] von Pfarrer Martin Lipsch[2], heute Solingen.

Ich werde ihn nicht vergessen, Sergej, den alten russischen Baggerfahrer. In Pillkallen lebt er, weit weg von Königsberg, in der ärmsten Gegend des Königsberger Gebietes.

Pillkallen - keine andere Stadt in Ostpreußen hat der Krieg so getroffen, keine andere Stadt wurde so umgepflügt und verwüstet. Erobert von den Russen, zurückerobert von der Wehrmacht, und wieder eingenommen von der Roten Armee. Da blieb kaum ein Stein auf dem anderen. Eine schmucke, blühende Kreisstadt war das bis zum Krieg, mit allem, was zu einer deutschen Kreisstadt dazugehört. Heute, da ist Dobrowolsk eine ländliche Siedlung, ohne Stadtrechte. Kühe und Schafe weiden im einstigen Stadtzentrum. Wo einst die Kirche stand, erhebt sich nun ein gewaltiges Denkmal: Ewiger Ruhm unseren Helden! Rund um das Denkmal: Ödnis und Leere.

Sergej, jahrzehntelang hat er dort Bagger gefahren, Häuser mit abgerissen, Baugruben ausgeschachtet, Löcher, die der Krieg gerissen zugeschüttet. Er hat eine Leidenschaft, über die viele Russen denken: der ist verrückt. Er sammelt. Er sammelt alles, was an die Deutschen erinnert. Sein Haus ist zum Museum geworden, vollgestopft sind die Zimmer, bis an die Decken.

Postkarte Pillkallen

Hier, in diesem kleinen Haus, da ist alles zu finden, was an die deutsche Vergangenheit dieses bis heute so schwer gezeichneten Ortes erinnert. Blech- und Emailleschilder: Kraftpost Haltestelle - Kreissparkasse zu Pillkallen, Nebenstellen: Lasdehnen, Schirwindt – Vorsicht, Lebensgefahr, Leitung nicht berühren - Werbetafeln für Persil und Juno-Zigaretten. Stahlhelme, Münzen, Bierkrüge und Aschenbecher mit Aufdruck, Straßenschilder und Küchengeräte: alles fein aufgereiht. Wandteller mit einem Bild von Kaiser Wilhelm II. oder Hindenburgs, des Befreiers von Ostpreußen. Und so viele Bruchstücke von Tellern, die den Geist ihrer Zeit atmen: Ich kenne keine Parteien mehr, kenne nur Deutsche!

Die Suppe ist ein gut Gericht, nur Suppenkasper isst sie nicht! Die Lieb und Treu ist steuerfrei! Nur einmal blüht im Jahr der Mai, die Liebe ist jeden Morgen neu.

Lange haben wir uns unterhalten. Ich bin der erste Deutsche, der ihn 2014 besucht, sagt er traurig, und es war schon der 20. Juni. Ich konnte ihm erklären, was das auf den rostigen Erkennungsmarken bedeutet: RAD. Seine Sammlung ganzer und zerbrochener Erkennungsmarken des RAD hat er mir anvertraut, ich werde sie an die Kriegsgräberfürsorge weiterleiten - vielleicht kann so ein Schicksal nach Jahrzehnten geklärt werden.

Bedrückt, eigentümlich bewegt hat mich seine Sammlung.

Verschwunden sind so viele Zeugnisse der Jahrhunderte langen deutschen Geschichte dieser Stadt, und der kümmerliche Rest, er findet sich aufgereiht in seiner Wohnung.

Was bleibt von uns? So geht es mir durch den Kopf, als wir uns verabschiedet haben. Was bleibt? Diese Frage lässt mich nicht mehr los, in diesem Juni 2014 in Ostpreußen. Die Gräber von Generationen von Deutschen, geplündert und eingeebnet wurden sie. Aber die Denkmäler, die an unsere „Helden" von 1914-1918 erinnern, sie haben die Russen merkwürdigerweise nicht angetastet.

Unseren Helden - niemals vergessen! Gut lesbar auf einem wuchtigen Stein steht es geschrieben. Sie sind doch schon längst vergessen.

So viele Gotteshäuser, als Ruine stehen sie da, als Lager genutzt, als Platz für das Vieh. Manchmal noch eine deutsche Inschrift gut lesbar. Dachpfannen erinnern daran: dieses Haus haben Deutsche gebaut. Ich sehe Reste gesprengter Brücken, Schienen, die im Nichts enden, Ackerland, das zum Sumpf geworden ist.

Nirgendwo sonst in Europa ist eine Kulturlandschaft so erbarmungslos verwüstet und seiner Menschen beraubt worden - ohne dass etwas Gutes, Neues an die Stelle des Alten getreten ist.

Was bleibt? Erinnerungen verblassen, die Zahl derer, deren Wiege hier einst stand, sie schrumpft unaufhaltsam, die Jungen wollen vom Leben und Leiden der Alten nichts oder kaum etwas wissen.

So viele, die hier umgekommen, und niemand hat sie begraben. So viele, die das Grauen vor 70 Jahren bis heute verfolgt. Menschen mussten büßen, was sie nicht zu verantworten hatten. Menschen wurden verschleppt, der Heimat beraubt, nichts sollte mehr an sie erinnern. Was bleibt? Menschen können uns alles nehmen, können Geschichte restlos auslöschen.

Was bleibt, von mir, von meinem Leben? So fragen wir, wenn wir auf unseren Weg zurückblicken, wenn wir die Gipfel und auch die Trümmer unseres Lebens vor Augen haben.

Antwort, tröstliche Antwort, die finde ich nur im Glauben, der unsere Väter und Mütter getragen hat.
„Und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar"- voller Vertrauen hat der Verfasser des 23. Psalms diese Worte gebetet.

Wir haben eine letzte Heimat, die kann uns keiner rauben. Es gibt eine Geborgenheit, die bleibt uns, auch wenn Menschen uns alles nehmen, was uns Heimat war und uns geborgen hat. Spuren der irdischen Heimat sie verwehen, können brutal getilgt werden. Die Heimat, die Gott uns schenkt, sie bleibt. Wer seine Heimat bei Gott gefunden hat, für den wird es leichter, trotz aller Abschiede und Verluste weiter zu leben. In Gottes Herz, in Gottes Haus ist Platz für jeden von uns - in dieser Zeit und für alle Zeit. Wohl dem, der darauf baut!

Bilder aus dem Museum

Museum Sergej Tschetschulinski in Schloßberg 2004,
Foto: Gerhard Leithaus, Berlin
Museum Sergej Tschetschulinski in Schloßberg 2004,
Foto: Gerhard Leithaus, Berlin
Museum Sergej Tschetschulinski in Schloßberg 2004,
Foto: Gerhard Leithaus, Berlin
Museum Sergej Tschetschulinski in Schloßberg 2004,
Foto: Gerhard Leithaus, Berlin
Museum Sergej Tschetschulinski in Schloßberg 2004,
Foto: Gerhard Leithaus, Berlin
Museum Sergej Tschetschulinski in Schloßberg 2004,
Foto: Gerhard Leithaus, Berlin
Museum Sergej Tschetschulinski in Schloßberg 2004,
Foto: Gerhard Leithaus, Berlin
Museum Sergej Tschetschulinski in Schloßberg 2004,
Foto: Gerhard Leithaus,
Bild Marktplatz von Pilkallen wurde auch von Herrn Tschetschulinski gemalt. Museum Sergej Tschetschulinski in Schloßberg Mai 2005,
Foto: Gerhard Leithaus, Berlin
Museum Sergej Tschetschulinski in Schloßberg 2008,
Foto: Gerhard Leithaus, Berlin
Beginn der „archäologischen“ Grabungen im Garten von Sergej Tschetschulinski in der ehemaligen. Schirwindter Straße Nr. 21. Früher war hier das Privatgrundstück des Arztes Dr. Max Dannappel, 2005
Foto: Gerhard Leithaus, Berlin
Museum Sergej Tschetschulinski in Schloßberg 2008,
Foto: Gerhard Leithaus, Berlin
Museum Sergej Tschetschulinski in Schloßberg 2008,
Foto: Gerhard Leithaus, Berlin
Museum Sergej Tschetschulinski in Schloßberg 2008,
Foto: Gerhard Leithaus, Berlin
Museum Sergej Tschetschulinski in Schloßberg 2008,
Foto: Gerhard Leithaus, Berlin

Video

Pfarrer. Martin Lipsch: Was bleibt von uns? Der Baggerfahrer aus Pillkallen - NRW-Ostpreußentreffen 2014
Landestreffen der Ostpreußen in Nordrhein-Westfalen auf Schloss Burg an der Wupper am 20. Juli 2014 (11.02.2015)


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Fußnoten

  1. Quelle: Schloßberger Heimatbrief 2014, Seite 68 bis70. Die Genehmigung für die Veröffentlichung des Artikels in GenWiki im „Portal Pillkallen“ unter der Auflage der ausschließlich nicht-kommerziellen Nutzung liegt von der „Kreisgemeinschaft Schloßberg/Ostpr. e.V. in der Landsmannschaft Ostpreußen e.V., Rote-Kreuz-Straße 6, 21423 Winsen/Luhe“ schriftlich vom 19.03.2011 vor.
  2. Pfarrer Martin Lipsch, Evangelische Kirche Wald (11.02.2015)